von Florian Flade
Emrah E. aus Wuppertal war Deutschlands meistgesuchter Terrorist – bis er vor knapp einer Woche in Ostafrika festgenommen wurde. Salafisten-Karrieren wie die seine, will die Politik nun verstärkt verhindern. Fraglich bleibt, ob dies mit großangelegten Razzien und Vereinsverboten, wie in der vergangenen Woche geschehen, erfolgreich sein kann.
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Die Terrorkarriere eines jungen Mannes aus Wuppertal findet in Zentralafrika ein abruptes Ende. 10. Juni, Dar es-Salam, der Haupstadt Tansanias. Dort stellte die örtliche Polizei Emrah E., den zu dieser Zeit meist gesuchten Terroristen Deutschlands. In Kenia soll er, so melden afrikanische Medien, ein Einkaufszentrum in die Luft gejagt haben, floh dann über die Grenze ins benachbarte Tansania, wohin ihn sein Weg nach Abstechern im pakistanischen Waziristan, Iran und Somalia geführt hatte. In den kommenden Tagen wird Emrah E. voraussichtlich vorerst das letzte Mal eine Grenze überschreiten: Der 24-jährige Bundesbürger kurdischer Abstammung soll an die Bundesrepublik ausgeliefert werden.
Es ist eine wichtige Nachricht für Deutschland im den Kampf gegen den islamistischen Terror. Eine Nachricht, die allerdings untergegangen ist angesichts einer bislang einzigartigen Polizeirazzia in der Salafistenszene. An über 70 Orten tauchten Polizisten am Donnerstagmorgen in der Bundesrepublik auf, durchsuchten Vereinsheime und Wohnungen radikaler Islamisten, deren Gewaltbereitschaft inzwischen gefürchtet ist. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gab anschließend stolz Interviews, in denen er über schweren Schlag gegen den Salafismus in Deutschland sprach. Emrah E. erwähnt der Minister hingegen nicht.
Dennoch gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Emrah E. und dieser Aktion: Es sind Karrieren wie seine, die der deutsche Staat verhindern will. „Nicht jeder Salafist ist ein Terrorist“, wiederholte Friedrich mehrfach in den vergangenen Wochen vor den spektakulären Razzien am Donnerstag. „Aber all diejenigen, die im terroristischen Umfeld gelandet sind, haben einen salafistischen Hintergrund.“ Wie Emrah E.. Auch er war Salafist in der deutschen Provinz, bevor er eine internationale Terrorlaufbahn einschlug.
Doch die Strategie, Salafisten-Vereine stillzulegen, radikale Gläubige einzuschüchtern und ihre Netzwerke zu zerschlagen, dürfte nicht den großen Durchbruch bringen. Das Leben des Emrah E. zeigt, dass der Staat schon viel früher hätte einsetzen müssen, wenn die Behörden überhaupt etwas hätten erreichen wollen. Emrah E. war ein Außenseiter, er gehörte zu denen, die keinen Platz in dieser Gesellschaft haben, die schon ausgegrenzt werden, lange bevor sie in einer Moschee religiöser Fanatiker auftauchen. Und wohl auch deswegen so empfänglich für radikale religiöse Ideen sind. „Studien zeigen, dass jeder zweite radikale Salafist eine von Kriminalität und Gewalt geprägte Teenagerzeit durchlaufen hat“, sagt Islamismus-Expertin Claudia Dantschke vom „Zentrum Demokratische Kultur“ in Berlin, „ein Leben ohne Perspektive aber voller Sehnsucht nach Momenten des Glücks und der Anerkennung.“
Glaubt man Emrahs Erzählungen, dann fand er zu Allah, als er schon längst mit der Gesellschaft gebrochen hatte. In Zelle Nr.347 der Jugendvollzugsanstalt Siegburg. Er las dort erstmals intensiv Koran, studierte die heilige Schrift des Islams. Und fand darin Halt: „Von der Dunkelheit ins Licht“, nannte Emrah E. einmal diese Entwicklung. Auf sieben Quadratmetern, umgeben von grünen Wänden. Hier wurde er zum Salafisten.
In seinem Leben vor dem Knast hat Religion keinen Platz. Emrah E., kommt 1988 in der Stadt in Karliova in der Ost-Türkei zur Welt. Als seine Eltern nach Deutschland auswandern, ist er zwei Jahre alt. Im Wuppertaler Stadtteil Vohwinkel beginnen seine Eltern ihr neues Leben. Hier wächst Emrah, den sie alle nur „Emo“ rufen, mit seinen beiden älteren Schwestern und den jüngeren Brüdern Bünyamin und Yusuf auf. „Ich bin genau in der Mitte und das schwarze Schaf der Familie“, schreibt Emrah später in einem biografischen Essay. „Ich habe viel Schlechtes gemacht, alles, was sich ein Mensch vorstellen kann, eine Anzeige kam nach der anderen.“ Er habe sich nur noch für Discotheken, Drogen und Schlägereien interessiert. „Ich versuchte so viel Geld wie möglich und hübsche Frauen an meiner Seite zu haben“, so Emrah. „Meinem Vater gefiel das nicht.“ Der Vater schickt Emrah und den jüngeren Bruder Bünyamin in den Ferien zum Arbeiten auf einen Bauernhof unweit von Wuppertal. Dort helfen die kurdischen Brüder in den Ferien mit, Tiere zu schlachten. Emrah sei stets aggressiver und stürmischer als sein kleiner Bruder gewesen, erinnert sich später der Bauer, „Bünyamin war das genaue Gegenteil.“
Emrah gerät schon früh in eine Identitätskrise, sucht einen Weg zwischen dem konservativen Elternhaus und dem Leben als Straßengangster und Rap-Musiker. Die Lehrer in Wuppertal verzweifeln an ihm, Sozialarbeiter oder Psychologen trifft er in dieser Zeit nicht. Als Emrahs Schwester einen frommen Muslim heiratet, der in Pakistan zum Prediger ausgebildet wurde, sieht der strenge Vater eine Gelegenheit, den Sohn vor einer kriminellen Karriere zu bewahren. Er schickt Emrah in eine pakistanische Koranschule.
„Das ist leider eine sehr typische Form der Reaktion“, so Expertin Dantschke, „Statt sich zu fragen, wo die Ursachen für das Abdriften des Sohnes zu suchen sind und auch den eigenen Erziehungsstil zu hinterfragen, werden die Autoritäten ausgetauscht. Anstelle des autoritären Vaters tritt nun der strafende Gott und soll es richten. Angst statt Verstehen ist das Rezept.“
In Pakistan kommt Emrah mit strenggläubigen Muslime aus den USA, Großbritannien, Australien, Tansania, Somalia und dem Kaukasus in den Kontakt. „Mein Schwager hatte Angst, dass ich nach Afghanistan fahren würde, weil ich einige Freunde hatte, die gerne über den Dschihad redeten“, wird Emrah später schreiben.
Wirklich geweckt wird der religiöse Eifer in Emrah jedoch nicht. Nach seiner Rückkehr aus Pakistan lässt er die Schule wieder schleifen, und stattdessen kifft und trinkt er: „Nach drei Monaten war ich wieder der Alte.“ Emrah hat weder Arbeit noch Geld. „Spätestens jetzt hätten sich die Eltern professionelle Hilfe bei staatlichen oder privaten Institutionen holen müssen, was aber auch ein Eingeständnis des eigenen Versagens bedeutet hätte“, sagt Islamismusexpertin Dantschke.
Stattdessen setzt der Vater seinen Sohn vor die Tür. Emrah lebt einen Monat auf der Straße, begeht Raubüberfälle. „Eine Pistole und in zehn Minuten war alles klar. Mal 20 bis 30 oder hundert Euro“, schreibt er 2008 in seinem Essay. Doch seit dem Pakistan-Aufenthalt belastetet etwas den Teenager – die Angst vor der ewigen Hölle. „Ey, was ist mit Allah? Emrah, was tust du da?“, fragt er sich. Emrah ist 17 Jahre alt, als er das erste Mal vor Gericht steht. Wegen „schwerer räuberischer Erpressung“ wird er zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Nach der Haftentlassung dauert es nur wenige Monate und er wird erneut kriminell. Im September 2007 verurteilt ihn ein Gericht zu drei Jahren und sechs Monaten. Es folgt die Zeit in Zelle Nr.347 der JVA Siegburg. Nacht für Nacht liest Emrah nun den Koran und betet viel: „Ich lebte unter dem Schatten des Koran. Das war mein Motto“.
Islamismus-Expertin Dantschke, die mit ihrem Team in Pionierarbeit Aussteiger- und Präventionsprogramme für Salafisten entwickelt hat. bestätigt, dass die jungen Männer sich oft erst im Gefängnis zu religiösen Fanatikern wandeln. „Die Haft als Ort der Radikalisierung wird von den Behörden völlig unterschätzt, obwohl es genug Erfahrungen am Beispiel des Rechtsextremismus gibt.“ Die Hinwendung zur Religion werde als beruhigend unterschätzt, und es werde zu wenig darauf geachtet, welcher Interpretation des Koran sich der Jugendliche zuwendet, um seinem verkorksten Leben wieder einen Sinn zu geben.
Wieder in Freiheit wird Emrahs Wandlung hin zum Diener Allahs für jedermann aus der Nachbarschaft sichtbar. Er trägt fortan lange Gewänder, Gebetsmütze und lässt sich einen Bart stehen. Sogar den kleinen Bruder Bünyamin steckt er mit seiner neugewonnen Religiosität an. Das Bruderpaar besucht nun regelmäßig Wuppertaler Moschee-Gemeinde „Schabab an-Nur“. Dort predigt der Palästinenser Abu Jibriel, den Sicherheitsbehörden zu den Salafisten zählen. Dabei gelten seine Predigten als eher gemäßigt. Zu gemäßigt für Emrah. Auch das ist typisch für junge Salafisten. Emrah will mehr, er will für die unterdrückten Muslime kämpfen, ein Krieger Allahs werden.
Im Frühjahr 2010 ist er plötzlich verschwunden. Zunächst heißt es, er habe sich in eine Sprachschule nach Ägypten abgesetzt. Dann wird klar: Er ist mit Glaubensbrüdern über den Iran nach Pakistan emigriert. Diesmal allerdings nicht zum Studium in einer Koranschule – sondern um in den „Heiligen Krieg“ zu ziehen. Die mitgereisten Freunde aus NRW kehren noch auf dem Weg nach Pakistan um. Emrah hingegen schließt sich in den Bergen zwischen Afghanistan und Pakistan der Terrorgruppe „Islamischen Bewegung Usbekistans“ (IBU) an. Der Ex-Kleinkriminelle, Ex-Rapper „Emo“ wird zum Dschihadisten „Salahuddin al-Kurdi“.
Es ist ein hartes, beschwerliches Leben in den pakistanischen Bergen. Und ein gefährliches. Dennoch folgt Emrah der kleine Bruder Bünyamin im Herbst 2010 nach. Nahe Mir Ali mietet Emrah mit seiner kleinen Familie ein Haus, in dem er auch andere Dschihadisten aus Deutschland beherbergt. Das Leben in Waziristan scheint trotz aller Strapazen der langersehnte Wunsch des Emrah E. zu sein. Nur an Geld mangele es. Er brauche finanzielle Hilfe, bettelt er stets bei den Heimanrufen ein, notfalls müsse der daheimgebliebene Bruder Yusuf einen Supermarkt überfallen und das erbeutete Geld schicken.
Im September erzählt Emrah dem Bruder in Wuppertal, Bünyamin sei für eine besondere Operation auserwählt worden. Er werde viele Feinde töten. Von seinem Glück dürfe er allerdings nichts erfahren. Und auch die Familie nicht. Das BKA hört mit, als Emrah dem Bruder in Wuppertal von den Anschlagsplänen berichtet.
Am 04.Oktober 2010 trifft eine US-Drohne das Haus, in dem die Wuppertaler Brüder leben. Bünyamin und vier weitere Kampfgefährten sind auf der Stelle tot. Emrah wird seinen Bruder noch wenige Stunden später eigenhändig begraben. Die Familie E. in Wuppertal erfährt bereits am nächsten Tag vom Tod des Bünyamin. „Meine Söhne kämpfen gegen Amerika“, soll der als radikal geltende Vater E. noch kurz vorher stolz in der Nachbarschaft erzählt haben. Nun wurde einer ein Opfer der US-Drohnentaktik.
Geschockt über den Tod des kleinen Bruders wachsen in Emrah offenbar Zweifel. Per Telefon meldete er sich beim Bundeskriminalamt in Deutschland. Er wolle zurück, habe genug vom Dschihad. Emrah verlangt Straffreiheit, Flugtickets und eine gewaltige Summe Geld. Im Gegenzug bietet er Informationen über baldige Al-Qaida-Anschläge in Deutschland Die Behörden zögern. Blufft der Wuppertaler Islamist? Plant er in Wahrheit einen Anschlag auf eine deutsche Botschaft? Emrah gilt als Hardliner, aber auch als Schwätzer. Das Bundeskriminalamt geht nicht auf den Deal ein. Dennoch haben Emrahs Anrufe weitreichenende Folgen. Dass der damalige Bundesinnen- und heute Verteidigungsminister Thomas De Maizere im November 2010 vor die Presse tritt und eine bundesweite Terrorwarnung herausgibt, hat mit seinen Telefonaten zu tun. Der Reichstag wird für Besucher geschlossen, die Polizeipartrouillen an Bahnhöfen und Flughäfen werden verstärkt.
Nur kurze Zeit später sind sich die deutschen Ermittler sicher: Emrah wollte Angst vor Terror schüren. Dies ergibt sich vor alle aus abgehörten Telefonaten, die der Terrorist immer wieder mit seiner Familie im heimischen Wuppertal führt. „Was macht Deutschland, haben sie Angst?“, fragt Emrah bei einem der Anrufe.
In Waziristan verschlechtert sich die Stimmung. Die Drohnenangriffe setzen den Dschihadisten zu. Al-Qaida, der sich Emrah angeschlossen hat, fordert Kämpfer auf, die Region zu verlassen und an andere Orte des Dschihad zu ziehen. Emrah ist einer der ausländischen Islamisten, die Pakistan daraufhin verlassen wird. Mit seiner Frau und seinem Sohn reist er zunächst in den Iran. Als die Familie feststellt, dass ihr Geld nur für ein Flugticket ausreichen wird, schickt Emrah Frau und Kind zurück nach Deutschland.
Er selbst steigt hingegen in ein Passagierflugzeug und setzt sich nach Ostafrika ab. Obwohl die Fluggesellschaft noch am Flughafen in Teheran seinen Pass checken lassen will, gelingt ihm die Weiterreise. In der deutschen Botschaft war kein Personal ansprechbar, was den Pass hätte kontrollieren können. Mit einem Empfehlungsschreiben der Al-Qaida auf einem USB-Stick schafft es Emrah schließlich nach Somalia, wo er Mitglied der Terrormiliz Al-Shabaab wird. Im Süden des Landes, nahe der Ortschaft Kismayo baut sich der Waziristan-Veteran ein neues Leben im Dschihad auf. Der Familie in Wuppertal berichtet er von seinem Haus, von den Glaubensbrüdern, die er kennengelernt hat.
Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass Emrah, der sich in Somalia „Abu Khattab“ nannte, eng eingebunden war in die Aktivitäten der Al-Shabaab, insbesondere in die Propaganda-Produktion der Medienabteilung „Al-Kataib“. Anfang 2012 verschlechtert sich auch die Lage der westlichen Dschihadisten in Somalia. Ähnlich wie in Waziristan misstraut die Terrorgruppe den Ausländern zunehmend. Die Islamisten aus dem Westen kommen, und mit ihnen die Drohnen der CIA. Das Al-Qaida Personal zieht die unbemannten Kampfdrohnen an. In der Al-Shabaab Führung kommt es zu Machtkämpfen. Es scheint, als hätte jener Flügel der Al-Shabaab dominiert, der die Ausländer pauschal als Spione verdächtigt, sogar exekutieren lassen will.
Frustiert rät Emrah den Gesinnungsgenossen in Deutschland, nicht nach Somalia zu kommen. Die Situation sei zu gefährlich, in anderen Regionen sei jetzt Zeit für Dschihad. Weshalb genau er Somalia verließ ist nicht klar. Womöglich weil er im April bei Kämpfen verletzt wurde. Anfang Mai soll Emrah wieder nach Kenia eingereist sein, behaupten die kenianischen Behörden, diesmal mit dem Ziel einen Terroranschlag zu verüben. Sein Weggefährte, der Schweizer Islamist Majd al-N., wird in Kenias Hauptstadt Nairobi gefasst und berichtet, er sei mit Emrah über die Grenze gekommen. Der hätte aber vor dem Polizeizugriff noch per Bus fliehen können.
Am 10.Juni, mehrere Wochen nachdem er sich zuletzte bei der Familie in Deutschland gemeldet hatte, stellen Sicherheitskräfte am Flughafen von Dar es-Salam, Tansania, den Wuppertaler Terroristen. Unter dem Namen „Abdurrahman Uthman“ war Emrah eingereist. Aktuell wird er noch von tansanischen Polizisten verhört. Aber auch ein deutscher Botschaftsmitarbeiter hatte bereits Zugang zu Emrah. In den kommenden Tagen soll er nach Deutschland ausgeliefert werden. Emrah E. wird in ein Land zurückkehren, dessen Regierung dem Salafismus den Kampf angesagt hat. Um Karrieren wie die seine zu verhindern.