von Florian Flade
Abu Bakr al-Baghdadi gilt als Phantom: Er ist der Anführer des stärker werdenden Terrornetzwerkes Islamischer Staat im Irak und Sham – und provoziert damit den eigentlichen Al-Qaida-Chef.

Als er noch im nordrhein-westfälischen Dinslaken wohnte, war Philip B. ein Berufsschüler, der als Pizzabote sein Geld verdiente. Jetzt lebt der Konvertit in Syrien und kämpft als „Abu Osama al-Almani“ an der Seite al-Qaidas gegen das Assad-Regime. In einer Videobotschaft lobt Philip B. das Terrornetzwerk in höchsten Tönen. „Ich hab noch eine Nachricht an meinen Sheikh Abu Bakr al-Baghdadi. Wir sind wirklich zufrieden mit deiner Arbeit“, sagt der deutsche Dschihadist. „Und dass du bereit bist, trotz der ganzen Gegner den Islamischen Staat auszurufen. Dafür lieben wir dich, und dafür stehen wir dir zur Seite!“
Wer ist der ominöse Sheikh, dem der deutsche Gotteskrieger seine Loyalität ausspricht?
Abu Bakr al-Baghdadi ist der derzeit wohl mächtigste Mann innerhalb des Terrornetzwerkes al-Qaida. Obwohl die Organisation nach der Tötung Osama Bin Ladens im Mai 2011 rein hierarchisch von dem Ägypter Ayman az-Zawahiri geführt wird, lenkt al-Baghdadi mittlerweile faktisch einen Großteil der islamistischen Gotteskrieger. Der 42-jährige Iraker, dessen richtiger Name Ibrahim Bin Awad Bin Ibrahim al-Badri al-Radawi al-Husseini al-Samarrai lauten soll, befehligt den Al-Qaida-Ableger Islamischer Staat im Irak und Sham (ISIS), die aktuell wohl schlagkräftigste Terrorgruppe auf dem syrischen Schlachtfeld. Das US-Außenministerium hat für Hinweise zu seiner Ergreifung eine Belohnung von zehn Millionen US-Dollar ausgesetzt.
Für westliche Sicherheitsbehörden war al-Baghdadi lange Zeit ein Phantom. Nach der Tötung des Jordaniers Abu Mussab az-Zarkawi im Juni 2006 übernahm er zunächst das irakische Al-Qaida-Netzwerk. Auf öffentliche Auftritte, etwa in Propagandavideos, verzichtet al-Baghdadi bislang. Lediglich Audiobotschaften veröffentlicht der Extremist in regelmäßigen Abständen.
Al-Baghdadis nicht unumstrittener Machtanspruch beruht zum größten Teil auf seiner Biografie. Geboren 1971 im irakischen Samarra, soll al-Baghdadi aus einer angesehenen Familie stammen, die mehrere Sharia-Gelehrte hervorgebracht hat und in direkter Verwandtschaft zum Propheten Mohammed stehen soll. Zudem, so heißt es in einer in dschihadistischen Internetforen verbreiteten Biografie, soll er über einen Doktortitel in islamischer Theologie von der Universität Bagdad verfügen. Und somit offiziell ein Rechtsgelehrter sein. Als „Dr. Abu Dua“ bezeichnete er sich lange Zeit selbst.
Nach dem Einmarsch der US-Armee in den Irak im Jahr 2003 schloss sich al-Baghdadi eigenen Angaben zufolge der frühen Al-Qaida-Keimzelle um Abu Mussab az-Zarkawi an. Welche Rolle er unter az-Zarkawi innehatte, ist bis heute ungeklärt. Jedenfalls stieg er nach dessen Tod unmittelbar zum Anführer des Islamischen Staates im Irak (ISI), wie sich die irakische al-Qaida nennt, auf.
Mittlerweile hat er das Nachbarland Syrien ins Visier genommen. Al-Baghdadi entsandte wohl erstmals 2012 Kämpfer aus dem Irak über die Grenze, um Präsenz im syrischen Bürgerkrieg aufzubauen. Sein erklärtes Ziel war dabei die Errichtung eines radikal-islamischen Gottesstaates in Nahost. Ausgehend vom West-Irak sollen Dschihadisten die gesamte Region über die Grenze nach Syrien hinaus unter ihre Kontrolle bringen. Nie hat al-Qaida ein derart großes Gebiet beherrschen können.
Um diese Vision umsetzen zu können, verkündete der Terrorchef im April 2013 die Gründung einer neuen Organisation, des Islamischen Staates im Irak und Sham. Eine Aktion, die al-Sawahiri zornig machte. Wohl aus seinem Versteck irgendwo im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet heraus sandte der Bin-Laden-Nachfolger im Juni 2013 einen wütenden Brief an seine Statthalter im Irak und in Syrien. „Sheikh Abu Bakr al-Baghdadi lag falsch, als er ISIS gegründet hat, ohne unsere Genehmigung und ohne unseren Rat einzuholen oder uns auch nur zu informieren“, schrieb al-Sawahiri. Der Islamische Staat in Syrien sei nun aufzulösen, so der Al-Qaida-Chef, die Organisation im Irak solle jedoch fortgeführt werden. Eine andere Terrorgruppe, die islamistische Jabhat-al-Nusrah-Front unter Führung von „Abu Mohamed al-Dscholani“, sei der rechtmäßige Al-Qaida-Ableger in Syrien.
Die Anordnung Sawahiris kam einer Ohrfeige für Abu Bakr al-Baghdadi gleich. Zu diesem Zeitpunkt aber hatten sich dessen Gotteskrieger bereits in zahlreichen Ortschaften in Nord-Syrien eingenistet und mit drakonischen Strafen, Folter und Hinrichtungen den Ruf als brutalste und furchterregendste Rebellengruppe erworben. Eine wachsende Zahl von Kämpfern der Jabhat al-Nusrah lief zu ISIS über. Der Machtbereich al-Baghdadis weitete sich zusehends aus. Und das, obwohl Ayman az-Zawahiri eigentlich den Rückzug der Terrormiliz in den Irak befohlen hatte.
Westliche Nachrichtendienste beobachteten den Machtkampf innerhalb al-Qaidas sehr genau. Wie würde al-Baghdadi auf die Anordnung seines Chefs reagieren? „Einen vergleichbaren Disput hatte es bis dato in der al-Qaida nicht gegeben“, sagt ein Analyst des Bundesnachrichtendienstes.
Al-Baghdadis Antwort auf az-Zawahiri folgte nur wenige Tage später. „Der Islamische Staat im Irak und in der Levante wird fortbestehen und ist nicht gefährdet, bis wir sterben“, sagte der Iraker in einer Audiobotschaft, die im Internet verbreitet wurde. An die Konkurrenz der Jabhat al-Nusrah gerichtet, bot al-Baghdadi an, diese könne sich problemlos seiner Gruppierung anschließen.
Zawahiri hatte die Jabhat al-Nusrah offiziell als Teil al-Qaidas und rechtmäßigen Ableger in Syrien geadelt. Für al-Baghdadi aber ist die Gruppe in ihrer Auslegung der Sharia nicht radikal genug. Der Kampf Jabhat al-Nusrahs gilt primär dem syrischen Regime Baschar al-Assads. Aus Sicht al-Baghdadis aber müssten sämtliche Schiiten und auch Kurden als „Feinde der Sunniten“ bekämpft werden.
Der Machtkampf innerhalb der al-Qaida war mit al-Baghdadis Absage an az-Zawahiri perfekt. Der machtbesessene Emir des Islamischen Staates war nicht gewillt, einen Rückzieher zu machen. Und er hat dabei gute Argumente auf seiner Seite. Die schwarz vermummten Dschihadisten von ISIS nehmen seit Monaten eine Ortschaft nach der anderen im syrischen Kriegsgebiet ein, hissen dort die schwarzen Flaggen mit dem Siegel des Propheten Mohammed, errichten Sharia-Gerichte und vertreiben lokale Rebellengruppen.
Zawahiri kann dem Siegeszug ISISs nur hilflos zusehen. Auch wenn er in einer Audiobotschaft am 8. November 2013 erneut auf al-Baghdadi einredete. In 14 Punkten legte al-Sawahiri dar, wie sich die Terrorgruppen in Syrien zu verhalten haben. Al-Baghdadis ISIL-Fraktion, so wiederholte er, solle sich auf irakisches Territorium zurückziehen. Jabhat al-Nusrah solle den Dschihad in Syrien führen.
Die Worte des Al-Qaida-Emirs scheinen jedoch auf taube Ohren zu treffen. Abu Bakr al-Baghdadi hat längst größere Ziele vor Augen. Er sieht sich als Herrscher eines grenzüberschreitenden Gottesstaates zwischen dem Irak und Syrien. Vergleichbare Macht übte bislang kein Al-Qaida-Vertreter aus.
Möglich ist all dies auch durch den Umstand, dass die Situation im Irak aufgrund des anhaltenden Bürgerkrieges in Syrien in Vergessenheit geriet. Insbesondere seit dem Rückzug der US-Truppen. Dabei gibt es weiterhin Terroranschläge gegen die irakische Regierung, kurdische Milizen im Norden und Schiiten im Südirak. Hunderte Menschen starben im vergangenen Jahr bei Attentaten, für die al-Baghdadis Organisation die Verantwortung übernahm.
Im Juli 2013 etwa stürmten Al-Qaida-Kämpfer das größte irakische Gefängnis in Abu Ghraib und befreiten über 500 Insassen, darunter unzählige Terroristen. Ein Coup, der al-Baghdadi in dschihadistischen Kreisen weitere Sympathie verschaffte. Zudem gelang es den Al-Qaida-Extremisten, beinahe unbemerkt ein Machtvakuum in der westirakischen Provinz al-Anbar auszunutzen. In den Städten Falludscha und Ramadi riefen die Dschihadisten in der vergangenen Woche einen islamischen Staat aus. Tausende Menschen flohen daraufhin.
Die irakische Regierung entsandte das Militär und forderte die örtliche Bevölkerung auf, sich gegen die Islamisten zur Wehr zu setzen. Die Folge waren blutige Gefechte mit mehr als 150 Toten. Der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki kündigte an, weitere Anti-Terror-Einsätze in der Region durchzuführen, „bis wir alle terroristischen Gruppen beseitigt und unser Volk in Anbar gerettet haben“.
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