Im Schatten der Taliban

Nach 20 Jahren ziehen Nato-Truppen aus Afghanistan ab. Die Taliban haben bereits große Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht – und sind weiterhin mit Al-Qaida vernetzt. Geht von Afghanistan bald wieder eine Terrorgefahr aus?

Von Florian Flade

Die Terroristen hatten Amerika ins Herz getroffen. Es waren Anschläge von bis dato ungeahnter Dimension. Passagierflugzeuge, von Selbstmordattentätern entführt und als Waffen missbraucht, gesteuert in das World Trade Center in New York City, in das Pentagon in Washington D.C. und in einen Acker in Pennsylvania. Knapp 3000 Menschen ermordeten die sogenannten „Todespiloten“ des 11. September 2001.

Das historische Verbrechen war von langer Hand geplant, die neunzehn Attentäter sorgfältig ausgewählt und ausgebildet worden. Sie stammten aus Saudi-Arabien, aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, aus Ägypten und dem Libanon. Manche hatten in Europa gelebt, etwa die Terrorzelle um Mohammed Atta, der in Hamburg studiert hat. Aus Afghanistan kam keiner der Terroristen.

Und doch geriet das zentralasiatische Land schon kurz nach den Anschlägen in den Fokus von Amerikas globalem Anti-Terror-Kampf. Denn am Hindukusch hatte das A-Qaida-Netzwerk von Osama Bin Laden seine Basis errichtet, terroristische Ausbildungslager aufgebaut und eine weltweite Terrorkampagne ersonnen. Unterschlupf gefunden hatten die Dschihadisten bei den afghanischen Taliban. Schnell war daher klar: Amerikas Vergeltung wird zuerst Afghanistan treffen.

Nur knapp vier Wochen nach den 9/11-Anschlägen besuchte der damalige US-Präsident George W. Bush die amerikanischen Luftwaffenbasis Travis in Kalifornien. Da war die Entscheidung in den Krieg zu ziehen längst getroffen worden, die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Bush stimmte die Soldaten und ihre Familien auf das ein, was da kommen sollte. Und er ließ keinen Zweifel daran, dass die Taliban nun dafür zur Verantwortung gezogen werden sollten, dass sie den Al-Qaida-Terroristen einen Unterschlupf geboten hatten und sie gewähren ließen.

„Diese Nation wird den Terror besiegen, wo immer wir ihn auf der Welt finden. Und wir werden nicht nur die Terroristen finden: Wir werden die Doktrin durchsetzen, die besagt, wer einen Terroristen beherbergt, ist ein Terrorist. Wenn Sie einen Terroristen ernähren, wenn Sie einen Terroristen finanzieren, sind Sie ein Terrorist. Und diese großartige, stolze Nation freier Männer und Frauen wird Sie ebenso für die Aktionen verantwortlich machen, die auf amerikanischem Boden stattfinden. (…) Ich habe den Menschen in Afghanistan die Wahl gelassen. Ich sagte zu den Taliban: Liefert sie aus! Zerstört die Lager! Lasst die Leute frei, die ihr zu Unrecht gefangen haltet! Ich sagte: „Ihr habt Zeit dafür.“ Aber sie hörten nicht. Sie haben nicht geantwortet, und jetzt zahlen sie einen Preis. Sie lernen, dass jeder, der Amerika angreift, von unserem Militär hören wird, und ihnen wird nicht gefallen, was sie hören. Bei der Wahl ihres Feindes haben die Übeltäter und diejenigen, die sie beherbergen, ihr Schicksal gewählt.“

Rede von US-Präsident George W. Bush auf der Luftwaffenbasis Travis, 17. Oktober 2001

Aus Amerikas Krieg gegen Al-Qaida und die Taliban wurde eine internationaler Militäreinsatz der Nato. Zahlreiche Nationen, darunter auch Deutschland, beteiligten sich daran, das Taliban-Regime zu stürzen, das in den 1990er Jahre die Macht in dem Land errungen und einen radikalislamischen „Gottesstaat“ errichtet hatte.

Zwar verfestigte sich schnell der Eindruck, es ginge in Afghanistan vor allem um einen humanitären Einsatz. Um den Aufbau einer funktionierenden Demokratie, um den Schutz von Frauen und Minderheiten, um den Bau von Mädchenschulen, und darum zu verhindern, dass Ehebrecher und angeblich Gotteslästerer gesteinigt oder ausgepeitscht werden. Der ursprüngliche Anlass für die militärische Invasion und anschließend Besetzung des Landes aber war ein anderer – und wesentlich profaner. Es ging darum zu verhindern, dass aus Afghanistan heraus Terrorismus in andere Länder exportiert wird. Dass international agierende Terroristen das Land ungehindert als Rückzugsort und Basis benutzen, um Anschläge – vor allem in Europa und Nordamerika – vorzubereiten. 

„Um zu verdeutlichen, worum es wirklich geht, habe ich davon gesprochen, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird. Deutschland ist sicherer, wenn wir zusammen mit Verbündeten und Partnern den internationalen Terrorismus dort bekämpfen, wo er zu Hause ist, auch mit militärischen Mitteln.“

Rede von Bundesverteidigungsminister Peter Struck, 20. Dezember 2002

Nach zwanzig Jahren soll der Nato-Einsatz in Afghanistan nun enden. Am 11. September dieses Jahres sollen die letzten US-Soldaten das Land verlassen, wie Präsident Joe Biden im April verkündet hat. Der Abzug der verbleibenden internationalen Truppen ist bereits in vollem Gange. Auch die Bundeswehr räumt ihre Stützpunkte und soll in den kommenden Wochen abziehen. Mission erfüllt, könnte man sagen.

Aber geht von Afghanistan heute tatsächlich keine Terrorgefahr mehr für den Rest der Welt aus? Wie groß ist das Risiko, dass das Land erneut zum Rückzugsraum für Dschihadisten aus aller Welt wird? Wie steht es um das Verhältnis von Taliban und Al-Qaida? Und wie kann ein effektiver Anti-Terror-Kampf in Afghanistan aussehen, wenn die Nato-Truppen abgezogen sind?

Die Meldungen aus den vergangenen Wochen machen deutlich, das die Taliban, diejenigen, die einst Bin Laden und seine Anhängerschaft beherbergten, weder verschwunden noch in der Bedeutungslosigkeit abgerutscht sind. Im Gegenteil: Die islamistischen Fundamentalisten scheinen stärker denn je. Angesichts des im April angekündigten vollständigen Abzugs der internationalen Truppen, sind die Extremisten in die Offensive gegangen und haben zahlreiche militärische Erfolge erzielen können.

Rund 50 der 370 Distrikte Afghanistans sollen die Taliban zuletzt eingenommen haben. Darunter viele wichtige Regionen, etwa in den nördlichen Provinzen Kunduz, Baghlan und Balkh. Auch einen Grenzposten zu Tadschikistan sollen Islamisten inzwischen unter ihre Kontrolle gebracht haben. Mancherorts sollen sich afghanischen Soldaten ergeben oder gar zu den Extremisten übergelaufen sein, andere wurden getötet.

Die UN-Beauftragte für Afghanistan, Deborah Lyons, warnte davor, dass bald weitere Landesteile in die Hände der Taliban fallen könnten. Auffällig sei, dass die eroberten Gebiete rund um die Provinzhauptstädte lägen, die möglicherweise demnächst eingenommen werden sollen. Was wiederum zu neuen Fluchtbewegungen und unzähligen Binnenflüchtlingen führen könnte.

In vielen Teilen Afghanistans sind die Taliban bereits jetzt wieder die dominierende Kraft, in den kommenden Monaten könnten sie ihr Herrschaftsgebiet noch weiter ausdehnen. Selbst die Einnahme der Hauptstadt Kabul und ein Sturz der dortigen Regierung von Präsident Ghani scheinen keineswegs mehr undenkbar. Schon kamen Assoziationen mit dem Abzug des US-Militärs aus Vietnam auf.

„Ich sehe nicht Saigon 1975 in Afghanistan (…) Die Taliban sind nicht die nordvietnamesische Armee“, sagte General Mark Milley, Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, neulich bei einer Befragung durch amerikanische Abgeordnete. Und auch Linda Thomas-Greenfield, US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, erklärte: „Die Welt wird weder die Einsetzung einer gewaltsam durchgesetzten Regierung in Afghanistan noch die Wiederherstellung des Islamischen Emirats anerkennen.“

Anerkennung oder nicht, die Taliban könnten im Herbst schlichtweg Fakten schaffen und Afghanistan ins Chaos stürzen. Und sie könnten jenen Dschihadisten, die eine internationale Agenda verfolgen, erneut die Möglichkeit eröffnen, sich wie in den 1990er Jahren im Land einzunisten und terroristische Trainingslager aufzubauen.

Im Jahr 2018 hatten die Friedensverhandlungen der USA mit den afghanischen Taliban begonnen. In den teils geheimen Gesprächsrunden wurde darüber verhandelt, wie ein schrittweiser Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeter aussehen könnte. Und welche Bedingungen dafür erfüllt sein müssen. Am 29. Februar 2020 unterzeichneten Vertreter der US-Regierung und der Taliban (offiziell bezeichnet als „Islamisches Emirat Afghanistan“) in der katarischen Hauptstadt Doha schließlich einen historischen Friedensvertrag mit dem Titel „Agreement for Bringing Peace to Afghanistan“.

Darin wurde unter anderem ein Abzug aller US-Truppen und Truppen von Partnernationen, sowie militärischen Ausbilder, Berater und privater Sicherheitsdienstleister innerhalb von 14 Monaten nach Unterzeichnung des Abkommens vereinbart. Die Taliban wiederum stimmten folgender Bedingung zu:

„Das Islamische Emirat Afghanistan, das von den Vereinigten Staaten nicht als Staat anerkannt wird und als die Taliban bekannt ist, wird keinem seiner Mitglieder, anderen Individuen oder Gruppen, einschließlich al-Qaida, erlauben den Boden Afghanistans zu nutzen um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeter zu bedrohen.“

Agreement for Bringing Peace to Afghanistan, 29. Februar 2021

Für die US-Seite ist folglich von entscheidender Bedeutung, dass Al-Qaida-Terroristen nach dem Abzug der Nato aus Afghanistan nicht wieder unter dem Schutz der Taliban operieren können. Die Taliban stimmten dem zu. Nur wenige Wochen nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags veröffentlichten die Terrorismus-Experten des UN-Sicherheitsrats allerdings ihren 11. Bericht zu den Taliban und anderen terroristischen Gruppierungen, die in Afghanistan aktiv sind. Die Analyse bezüglich des Verhältnisses zwischen Taliban und al-Qaida fiel darin ernüchternd und eindeutig aus.

„Die Führungsriege von Al-Qaida ist weiterhin in Afghanistan präsent, genau wie Hunderte von bewaffneten Kämpfern, Al-Qaida auf dem Indischen Subkontinent, und Gruppen von ausländischen Terrorkämpfern, die mit den Taliban verbündet sind. Eine Anzahl von wichtigen Al-Qaida-Kadern wurde während der Berichtszeit in Afghanistan getötet. Die Beziehungen zwischen den Taliban, speziell dem Haqqani-Netzwerk, und Al-Qaida sind weiterhin eng, basierend auf Freundschaft, einer Geschichte des gemeinsamen Kampfes, ideologischer Sympathie und Mischehen. Die Taliban konsultierten während der Verhandlungen mit den USA regelmäßig Al-Qaida und boten Garantien an, ihre historischen Verbindungen zu wahren. Al-Qaida hat positiv auf das Abkommen reagiert und es mit Erklärungen seiner Gefolgsleute als Sieg für die Sache der Taliban und damit für die globale Militanz gefeiert. Die Herausforderung besteht darin, die Errungenschaften der Taliban bei der Terrorismusbekämpfung zu sichern, die von ihnen verlangen, jede internationale Bedrohung durch Al-Qaida in Afghanistan zu unterdrücken.“ 

Eleventh report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team, 27. Mai 2020

Die USA akzeptierten mit dem Doha-Abkommen offensichtlich die bittere Realität, nämlich, dass man die Taliban auf dem Schlachtfeld in Afghanistan auch nach knapp zwei Jahrzehnten nicht besiegt hat. Stattdessen werden die Islamisten nun als Verhandlungspartner betrachtet und respektiert. Andererseits setzt man in Washington wohl auf das Prinzip Hoffnung, darauf, dass die Taliban mit ihren alten Weggefährten, den Terroristen der Al-Qaida, tatsächlich brechen. 

Woher aber kommt diese Zuversicht – und wie naiv ist eine solche Erwartung?

Al-Qaida ist heute stark geschwächt, daran dürfte kaum Zweifel bestehen. Vor allem die amerikanischen Drohnenangriffe im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet haben einen hohen Blutzoll in den Reihen des Terrornetzwerkes gefordert. Viele prominente Köpfe sind heute nicht mehr am Leben. Der Anführer Aiman al-Zawahiri hält sich weiterhin versteckt und meldet sich kaum noch zu Wort. Im vergangenen Jahr kursierten sogar Todesgerüchte, angeblich sei er an den Folgen einer Corona-Infektion verstorben, die jedoch bislang nicht bestätigt werden konnten. Sein Stellvertreter „Abu Muhammad al-Masri“ hingegen soll tatsächlich tot sein, erschossen von israelischen Agenten im August 2020 in Teheran, wo er sich versteckt haben soll.

Hinzu kommt ein Bedeutungsverlust der Gruppe innerhalb der globalen Dschihad-Szene. Mit der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) gibt es seit einigen Jahren einen dschihadistischen Rivalen, der nicht nur durch die Schreckensherrschaft des Terrorkalifats in Irak und Syrien, sowie zahlreiche spektakuläre Anschläge wie in Paris, Brüssel oder Berlin, zeitweise die volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Auch die kampfeswilligen Islamisten aus aller Welt zog es zuletzt eher in die Reihen des IS. Dieses Kräftemessen entwickelte sich zwischenzeitlich zu einem Bruderkrieg zweier Terrorgruppen.

Ende der 1980er Jahre hatte Osama Bin Laden seine Organisation Al-Qaida in Afghanistan gegründet. Sein Ziel war es, die Dschihadisten, die in den Jahren zuvor in die Region gereist waren, um gegen die Sowjets zu kämpfen, die Afghanistan rund zehn Jahre besetzt hatten, unter einer neuen Struktur zu versammeln. Er wollte das terroristische Potenzial dieser Kämpfer, der sogenannten „afghanischen Araber“ nutzen, neue Rekruten trainieren und weltweit in Kriegsgebiete wie dem Kaukasus, Jemen oder Somalia entsenden, vergleichbar mit einer dschihadistische Freiwilligenbataillon. Gleichzeitig sollten seine Anhänger die Präsenz der USA in arabischen Staaten bekämpfen und Terroranschläge gegen westliche Ziele planen.

Bin Laden und seine Gefolgschaft waren damals Gäste der Taliban, die Mitte der 1990er Jahre zunächst Kandahar und anschließend Kabul eingenommen und im September 1996 ein Islamisches Emirat ausgerufen hatten. Die Al-Qaida-Terroristen durften unter der Herrschaft der Taliban eigene Stützpunkte und Trainingslager errichten. Wie das Al-Farouq-Camp oder die Tarnak Farm unweit des Flughafens von Kandahar. Zahlreiche Extremisten, die später Anschläge in anderen Teilen der Welt verübten oder vorbereiteten, besuchten diese Lager. Darunter auch einige der 9/11-Todespiloten.

Für die Taliban waren die Al-Qaida-Mitglieder indes nicht nur Glaubensbrüder, die aufgrund einer gemeinsamen radikalislamischen Ideologie in Afghanistan geduldet wurden. Die Taliban profitierten wohl auch direkt von Al-Qaida, denn Bin Laden unterstützte sie mit Geld und seine Anhänger halfen ihnen beim Kampf gegen innerafghanische Feinde.

Dazu gehörte Ahmad Schah Massoud, Anführer der Nationale Islamische Vereinigte Front zur Rettung Afghanistans, später bekannt unter der Bezeichnung „Nordallianz“. Dabei handelte es sich um eine Ende der 1990er Jahre gegründeten Koalition von Milizionären, die gegen die Taliban kämpften und deren extremistische Gesinnung ablehnten. Massouds Kampfverband hatte die Islamisten in einigen Landesteile zurückdrängen können und erhielt dabei Unterstützung aus dem Ausland. Nicht nur von den USA, sondern auch von Indien, das eine Stärkung der Taliban, etwa durch Hilfe aus Pakistan, fürchtete.

Am 9. September 2001 wurde Ahmad Schah Massoud, der bereits mehrere Mordanschläge überlebt hatte, bei einem Attentat getötet. Zwei nordafrikanische Terroristen, die sich als Journalisten aus Belgien ausgaben, hatten ein Interview mit dem Kontrahenten der Taliban angefragt und waren in den Nordosten Afghanistans gereist. Während des Interviews zündeten die Selbstmordattentäter dann ihre Bombe, versteckt in der mitgebrachten Kamera. Massoud wurde schwer verletzt per Hubschrauber auf einen indischen Militärstützpunkt im benachbarten Tadschikistan geflogen, verstarb jedoch noch während des Flugs.

Bis heute ist unklar, wer genau für das Attentat auf den Anführer der Nordallianz verantwortlich war. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass das Terrornetzwerk Al-Qaida dabei eine Rolle spielte und dass die Tat mit den 9/11-Anschlägen, die nur zwei Tage später stattfanden, in Zusammenhang stand. Ahmad Schah Massoud hatte wenige Monate zuvor bei einer Rede im Europäschen Parlament davor gewarnt, dass Osama Bin Ladens Terroristen in Afghanistan unter dem Schutz der Taliban große Anschläge im Westen planten. 

Nach dem 11. September 2001 zerstörten die USA die terroristische Infrastruktur Al-Qaidas in Afghanistan weitestgehend. Die Führungsriege der Organisation floh, entweder – wie Osama Bin Laden und Aiman al-Zawahiri – ins benachbarte Pakistan, oder in Iran. Bei Gefechten mit US-Spezialeinheiten und afghanischen Milizen um die Höhlenverstecke bei Tora Bora kamen zudem wohl Dutzende Al-Qaida-Dschihadisten ums Leben.

Die Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan, vor allem die Federally Administered Tribal Areas (FATA) auf pakistanischer Seite, entwickelten sich in den Folgejahren zu einem Rückzugsort für Al-Qaida – und zu einem Anziehungspunkt für Dschihadisten aus zahlreichen Ländern. In den Stammesgebieten von Nord- und Süd-Waziristan entstanden terroristische Ausbildungslager, angehende Attentäter erhielten hier Kurse in Sprengstoffherstellung, Bombenbau und verschlüsselter Kommunikation. Neben Al-Qaida waren hier auch noch weitere Gruppierungen aktiv, in deren Reihen ebenfalls mehrheitlich ausländische Kämpfer zu finden waren. Die Islamische Bewegung Usbekistans (IBU) gehörte dazu, die Turkistan Islamic Party oder die kleine Terrorzelle der Deutschen Taliban Mudschaheddin (DTM).

Die Extremisten fanden in den pakistanischen Stammesgebieten verbündete unter den einheimischen Organisation, allen voran bei den Tehrik e-Taliban Pakistan (TTP). Teilweise heirateten die Al-Qaida-Kader und anderen ausländischen Dschihad-Kämpfer in die lokalen Familienverbände ein, schlossen Bündnisse und Allianzen.

Während in Afghanistan die Nato-Truppen gegen Taliban und deren Verbündete kämpften und afghanische Sicherheitskräfte für den Anti-Terror-Kampf ausbildeten, schmiedeten Bin Ladens Kommandeure im benachbarten Pakistan neue Terrorpläne. Viele davon schlugen fehl oder wurden vereitelt. Auch durch die Drohnenangriffe, mit denen die USA regelmäßig Terroristen in diesen Gebieten töteten.

Im Juni 2014 schließlich startete das pakistanische Militär die Operation „Zarb-e-Azb“, die mehreren Jahre andauerte und deren Ziel es war, die Terrorstrukturen im Land, insbesondere in der Grenzregion zu Afghanistan, zu zerstören. Mehr als 3500 Terroristen sollen im Zuge dieser Kampagne getötet worden sein, viele weitere Terrorverdächtige wurden zudem von Militärgerichten zu Todesstrafen verurteilt.

Wie steht es also heute um das Al-Qaida-Netzwerk in der Region?

Zwar sollen die „dschihadistischen Kolonien“ in den Dörfern Waziristan heute nicht mehr existieren. Die Al-Qaida-Terroristen aber sind wohl noch immer in Pakistan und in Afghanistan aktiv. In mindestens zehn afghanischen Provinzen soll die Terrororganisation derzeit vertreten sein, vor allem in Kunar, Nuristan, Paktia, Nangarhar, Logar, Kunduz, Ghazni, Helmand und Khost. Die Zahl der Al-Qaida-Kämpfer in Afghanistan wird auf 200 bis 500 geschätzt. Sie sollen weitestgehend den Schutz der örtlichen Taliban-Kommandeure genießen und teilweise als Bombenbauer und Sprengstoffexperten für die afghanischen Kämpfer tätig sein. 

Es gibt eine ganze Reihe von nachrichtendienstlichen Informationen, die nahelegen, dass die Verbindungen zwischen den Taliban und dem Al-Qaida-Netzwerk weiterhin bestehen – und möglicherweise sogar noch enger sind als vor einigen Jahren. Al-Qaida, so die Einschätzung von Terrorismus-Fachleuten der UN, sehe sein Schicksal mit dem der Taliban verbunden.

So soll es 2019 und Anfang 2020 mehrere Treffen von hochrangigen Taliban-Kommandeuren mit Al-Qaida-Mitgliedern gegeben haben. Dabei sollen sich die Extremisten über gemeinsame Trainings- und Ausbildungsstätten, aber eben auch über die Friedensverhandlungen der Taliban mit den Amerikanern ausgetauscht haben. 

An einem dieser Treffen im Frühjahr 2019 in Distrikt Sarwan Qalah in der Provinz Helmand, soll neben dem Sadr Mohammad Ibrahim (Militärkommandeur der Taliban), Mullah Mohammadzai (Leiter des Taliban-Geheimdienstes) und Gul Agha Ishakzai (ehemaliger Berater des inzwischen verstorbenen Taliban-Anführers Mullah Mohammed Omar), auch Hamza Bin Laden, Sohn des getöteten Al-Qaida-Gründers, teilgenommen haben. Im Juli 2019 erklärten die USA Hamza Bin Laden offiziell für tot, er soll im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ums Leben gekommen sein.

Al-Qaida soll insbesondere zum Haqqani-Netzwerk noch immer eine besondere Nähe pflegen. Im Februar 2020, so berichteten Quellen den Terrorismus-Experten des UN-Sicherheitsrates, soll sich der aktuelle Al-Qaida-Chef Aiman al-Zawahiri mit Hafiz Azizuddin Haqqani und Yahya Haqqani getroffen haben, um über das Abkommen mit den USA zu sprechen und deren Rat einzuholen.

Die Tatsache, dass mehrere Al-Qaida-Kader in den vergangenen Jahren in Afghanistan getötet wurden, ist ein weiterer Beleg für die Aktivitäten der Terroristen in den von Taliban kontrollierten Regionen. Am 22. September 2019 gab es eine gemeinsame afghanisch-amerikanische Militäraktion gegen ein Taliban-Versteck in der Region Shabaroz im Musa Qalah Distrikt von Helmand. Dabei wurden mehrere Terrorverdächtige getötet, unter anderem Sana ul-Haq alias „Asim Umar“, Anführer des Al-Qaida-Ablegers auf dem Indischen Subkontinent, sein Stellvertreter und ein Kurier, der Botschaften an Al-Zawahiri überbracht haben soll.

Im Oktober 2020 wurde der Ägypter Husam Abd al-Rauf alias „Abu Muhsen al-Masri“ bei einer Anti-Terror-Operation im Dorf Kunsaf in der afghanischen Provinz Ghazni getötet. Er soll der Propaganda-Chef des Al-Qaida-Netzwerkes gewesen sein und stand auf der FBI-Liste der meistgesuchten Terroristen.

Nur wenige Tage später, im November 2020 wurde im Bakwah Distrikt in der Farah Provinz im Westen Afghanistans der pakistanische Al-Qaida-Terrorist Mohammad Hanif alias „Abdullah“ von afghanischen Soldaten getötet. Hanif soll als Bombenbauer bei den Taliban gelebt und die Islamisten geschult haben.

Die Dschihadisten der Al-Qaida sind also offenbar weiterhin mindestens geduldete, vermutlich sogar eher gern gesehene Gäste der Taliban. Ein Umstand, an dem auch das Abkommen von Doha wohl wenig geändert hat. Allerdings bemühten sich die Taliban zuletzt sehr darum, zumindest den Eindruck zu erwecken, sie würden sich an die Abmachung mit der US-Seite halten.

Im Februar dieses Jahres tauchte ein Schreiben der Taliban-Führung auf, in dem dazu aufgerufen wurde, keine ausländischen Kämpfer mehr aufzunehmen und Schutz zu gewähren. Wer sich nicht daran halte, werde von den Taliban verstoßen werden, hieß es in dem Dokument.

Ob diese Anweisung tatsächlich ernst gemeint ist, bleibt fraglich. Den afghanischen Taliban direkt hatten sich in der Vergangenheit nur sehr vereinzelt Dschihadisten aus Europa oder Nordamerika angeschlossen, Kämpfer aus anderen asiatischen Ländern wie Pakistan, Bangladesch, Indien oder aus zentralasiatischen Ländern wie Tadschikistan, Usbekistan oder Turkmenistan waren hingegen keine Seltenheit. Es darf bezweifelt werden, dass sich die Taliban von diesen Glaubensbrüder nun losgesagt haben. 

Die Beziehungen zwischen einigen Taliban-Kommandeuren und den „Foreign Terrorist Fighters“ seien mitunter sehr eng, so beschreibt es ein Nachrichtendienstler, der lange in der Region tätig war, oft hätten die ausländischen Kämpfer gar in die einheimischen Familien eingeheiratet. Die Loyalität der Taliban gegenüber Al-Qaida sei auch 20 Jahre nach dem 11. September und trotz des zeitweisen Machtverlusts durch den Einmarsch der Nato noch immer erstaunlich groß. Stellenweise sei es vergleichbar mit einer Zweckehe. Al-Qaida sei auf das Wohlwollen der Taliban angewiesen und verhalte sich dementsprechend. Die Taliban wiederum würden vom Spezialwissen der Dschihadisten profitieren, beispielsweise beim Bombenbau oder auch in der Produktion von Propagandavideos.

Die Taliban und Al-Qaida haben folglich nicht miteinander gebrochen. Was bedeutet dies nun mit Blick auf einen mögliche Machtübernahme der Taliban in Afghanistan? Falls die Islamisten nach dem Nato-Abzug große Teile des Landes unter ihre Kontrolle bringen sollten: Was wird dann aus Al-Qaida?

Die Erben von Osama Bin Laden könnten darin eine Chance sehen, erneut in Afghanistan Fuß zu fassen. Sie haben die globale Agenda eines grenzenlosen Kampfes gegen die USA und ihre Verbündeten nicht aufgegeben – trotz zahlreicher Rückschläge. Unstrittig ist, dass die Organisation erheblich an Schlagkraft, Personal und Einfluss eingebüßt hat. Charismatische Führungsfiguren, nicht zuletzt der Gründer Osama Bin Laden, wurden getötet oder sind untergetaucht. Al-Qaida-Emir, der 69-jährige Aiman al-Zawahiri hat indes weiter an Bedeutung verloren, daran änderte auch die Tötung des selbsternannten IS-Kalifen Ibrahim Awad Ibrahim al-Badri alias „Abu Bakr al-Baghdadi“ im Oktober 2019 nichts.

Der IS hat durch die Ausrufung seines Kalifats in Irak und Syrien, den spektakulären Anschlägen in Paris und Brüssel und mit den zahlreichen inspirierten und teils angeleiteten Attentaten weltweit, Al-Qaida sichtlich den Rang abgelaufen. Und doch arbeitete die Organisation in den vergangenen Jahren noch weiter daran, spektakuläre Anschläge gegen westliche Ziele vorzubereiten. In den Sicherheitsbehörden warnte man gar vor einem „terroristischen Wettkampf“ zwischen den Terrorgruppen. Al-Qaida brauche angesichts der dschihadistischen Konkurrenz des IS einen symbolträchtigen Anschlag, um wieder auf sich aufmerksam zu machen.

Ein solcher Terrorakt aber blieb bislang aus – auch weil er wohl frühzeitig vereitelt werden konnte. Al-Qaida wollte offenbar den syrischen Bürgerkrieg dafür nutzen, eine neue Struktur aufzubauen, um Attentate in Europa zu planen und vorzubereiten. Nach Erkenntnissen von US-Geheimdiensten entsandten die Al-Qaida-Chefplaner in Afghanistan und Pakistan zu diesem Zweck einige erfahrene Dschihadisten nach Syrien. Die Emissäre vom Hindukusch sollen sich in der Region um Idlib angesiedelt haben, im Einflussgebiet der islamistischen Terrorgruppe Al-Nusra-Front. Die US-Geheimdienste gaben diesem neuen Netzwerk den Namen „Khorasan Gruppe“.

Die Sorge davor, dass es dieser Al-Qaida-Zelle gelingen könnte, aus Syrien heraus Anschläge in Europa und gegen westliche Ziele anderenorts durchzuführen, war groß. Mit gezielten Luftangriffen tötete das US-Militär daher im Jahr 2015 mehrere Kommandeure der „Khorasan Gruppe“, darunter den mutmaßlichen Kopf des Netzwerkes und langjährigen Al-Qaida-Mann Muhsin al-Fadhli, den Saudi Abdul Mohsen Adballah Ibrahim al-Charekh alias „Sanafi al-Nasr“ und den Franzosen David Drugeon, der zuvor in Pakistan und Afghanistan aktiv gewesen sein soll.

Syrien war in den vergangenen Jahren der dschihadistische Hotspot schlechthin. Zehntausende Islamisten zogen in das Land, um gegen das Assad-Regime zu kämpfen oder um sich dem IS-Terrorkalifat anzuschließen. Es gilt als eher unwahrscheinlich, dass das weit entfernte Afghanistan unter einer möglichen neuen Herrschaft der Taliban eine ähnliche Anziehungskraft auf Islamisten aus Europa auslösen könnte.

Hinzu kommt, dass auch in Afghanistan mittlerweile ein Ableger der Terrororganisation IS existiert, „Islamischer Staat in Khorasan“ (IS-K) genannt, der mit den Taliban verfeindet ist, aber für die ausländischen Dschihadisten womöglich doch attraktiver sein könnte als Al-Qaida. Erst in der vergangenen Woche tauchte eine Audiobotschaft des IS-Sprechers „Abu Hamza al-Qurashi“ auf, in dem er unter anderem den afghanischen IS-Ableger lobte und dazu aufrief, weiter die „abtrünnigen Taliban“ und Schiiten in Afghanistan anzugreifen.

Ob Al-Qaida sich jemals wieder in Afghanistan so etablieren kann, dass dort Terrornester entstehen, von denen eine Gefahr für den Westen ausgeht, bleibt abzuwarten. Das dschihadistische Personenpotenzial hat sich in den vergangenen Jahren eher in Richtung Syrien und eher zum IS orientiert, doch dies mag sich wieder ändern. Eventuell durch neue Führungskader – oder Veteranen, die wieder auftauchen. Wie etwa der Ägypter Saif al-Adl, der sich in den vergangenen Jahren im iranischen Exil versteckt haben soll.

Für die amerikanischen und europäischen Sicherheitsbehörden stellt sich dieser Tage grundsätzlich die Frage, wie ein effektiver Anti-Terror-Kampf am Hindukusch eigentlich aussehen kann, wenn die militärische Präsenz der Nato dort endet. Jüngst kündigte die US-Regierung zwar zur Empörung der Taliban an, dass wohl doch 650 amerikanische Soldaten in Kabul verbleiben werden. Die sollen allerdings vorrangig zum Schutz der US-Botschaft und des dortigen Personals eingesetzt werden, nicht für gezielte Operationen gegen Terroristen.

Die nächtlichen gemeinsamen Razzien von afghanischen und US-amerikanischen Spezialkräften, bei denen in der Vergangenheit immer wieder hochrangige Terroristen aufgespürt, festgenommen oder getötet wurden, wird es folglich nicht mehr geben. Ob die afghanischen Einheiten, die nun auf sich alleine gestellt sind, solche Einsätze werden fortsetzen können, darf bezweifelt werden.

Auf der Ebene der Geheimdienste wird wohl weiter ein enger Draht zwischen CIA, MI6, BND und dem afghanischen NDS bestehen. Gerade für die CIA bedeutet der schnelle Abzug aus Afghanistan eine gewaltige Herausforderung. Amerikas Spione müssen nun sicherstellen, dass sie weiterhin Informationen aus dem Land bekommen. „Wenn die Zeit kommt, dass das US-Militär abzieht, wird sich die Fähigkeit der US-Regierung Informationen über Bedrohungen zu sammeln, verringern. Das ist ganz einfach Fakt“, sagte der CIA-Direktor William J. Burns amerikanischen Senatoren im April. Kurz darauf soll Burns nach Pakistan gereist sein, um mit Vertretern des pakistanischen Militärs und des Geheimdienstes ISIS zu sprechen.

Dass die USA in Zukunft von pakistanischem Territorium aus Anti-Terror-Einsätze in Afghanistan durchführen können, gilt indes als eher unwahrscheinlich. Vor rund zehn Jahren verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den amerikanischen und den pakistanischen Geheimdienstlern erheblich, die CIA musste die Shamsi Air Base räumen, von der aus mehrere Operationen geplant und durchgeführt worden waren.

Spätestens die Tötung Bin Ladens durch ein Kommando der US Navy SEALs aber sorgte für erheblichen Unmut – sowohl in der pakistanischen Regierung, als auch in der Bevölkerung. „Vergessen wir die Vergangenheit, aber ich möchte den Pakistanern sagen, dass Premierminister Imran Khan keine US-Basis erlauben wird solange er im Amt ist“, erklärte Pakistans Außenminister Shah Mehmood Qureshi im Mai im pakistanischen Senat.

Der Kampf gegen Al-Qaida oder welche Terroristen sich auch immer in Afghanistan ausbreiten, wird wohl vor allem aus der Luft geführt werden. Die bewaffneten Kampfdrohnen haben sich als Mittel der Wahl für gezielte Tötungsaktionen erwiesen, daran werden die USA wohl weiter festhalten. Von wo aus die Drohnen in Zukunft zu ihren Einsätzen über Afghanistan starten werden, scheint noch unklar. Flugzeugträger im Persischen Golf wären wohl eine Übergangslösung. In den Golfstaaten gibt es jedoch Militärbasen, die bereits jetzt von den USA oder Großbritannien genutzt werden. Denkbar wären auch zusätzliche Stützpunkte in den zentralasiatischen Anrainerstaaten. 

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