Die Spione und die Psyche

Geheimdienste sammeln nicht nur Informationen. Sie analysieren auch die Psyche von Regierungschefs, Diktatoren und Top-Terroristen. Wie ticken Putin, Kim Jong-Un und Co.? Über das Gehirn als Aufklärungsziel.

Von Florian Flade

Persönlichkeitsstudie der CIA zu Fidel Castro, Dezember 1961

Wladimir Putin liebt es, sein Gegenüber zu überraschen. So beschreiben es diejenigen, die den russischen Präsidenten persönlich erlebt haben. Bei öffentlichen Auftritten, oder in vertraulichen Runden. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2007 nach Sotschi reiste, um Putin in seiner Sommerresidenz zu treffen, tauchte plötzlich im Salon voller Journalisten auch dessen Hund auf, ein schwarzer Labrador. Putin wusste augenscheinlich, dass die deutsche Regierungschefin keine großen Hunde mag. Schon Monate zuvor hatte er Merkel auf diese Weise zu provozieren versucht: Bei einem Besuch in Moskau schenkte Putin ihr einen Plüschhund.

Auch amerikanische Besucher wurden von Russlands Präsident bereits kalt erwischt. Nach einem Treffen mit dem damaligen Vize-Präsidenten Joe Biden soll Putin völlig überraschend erklärt haben, er habe sich mit seinem Gesprächspartner auf eine visafreie Reisemöglichkeiten für Russen und US-Amerikaner geeinigt. Die amerikanische Delegation war perplex, es entsprach schlichtweg nicht der Wahrheit. Putin hatte sich einen Scherz erlaubt.

An anderer Stelle soll Russlands Machthaber eher weniger humorvoll agieren. Oft starre er sein Gegenüber minutenlang wortlos an, so wird berichtet. Das „KGB-Starren“, wie dieses Verhalten stellenweise genannt wird, ist offenbar eine beliebte Methode des ehemaligen Spions, um seine Gesprächspartner zu verunsichern und einzuschüchtern. Überhaupt gilt Putin als ein Meister der Verschleierung, der sehr darauf bedacht ist, sich nicht in die Karten schauen zu lassen.

Wie also tickt der Mann im Kreml? Was treibt Wladimir Putin an? Wie weit wird er in der Ukraine gehen? Er droht mit Atomwaffen, aber würde er sie tatsächlich auch einsetzen? Wie berechenbar ist Putin heute? Handelt der russische Staatschef rational, oder ist er gar verrückt geworden?

Diese Fragen beschäftigen nun drängender denn je die Regierungen in Kiew, Berlin, in Paris, London, Washington und anderenorts. Antworten darauf sind nicht einfach zu bekommen, auch, weil Putin sich schon seit einiger Zeit weitestgehend abgeschottet haben soll, und es kaum noch Gesprächskanäle gibt. Die Psyche des russischen Autokraten allerdings steht schon lange im Fokus – und zwar von Geheimdiensten.

Zu den Aufgaben von CIA, BND, MI6 und anderen Diensten gehört nicht nur die geheime Informationsbeschaffung, sondern auch, das Verhalten, die Körpersprache, die geistige Verfassung und den Gesundheitszustand von ausländischen Staats- und Regierungschefs, Diktatoren oder Top-Terroristen zu analysieren. Die Fachleute in den Geheimdiensten erstellen Psychogramme, die wiederum Politikern und Diplomaten dabei helfen sollen, das Gegenüber besser einschätzen zu können.

Einige Nachrichtendienste betreiben das „Profiling“ bereits seit Jahrzehnten. In manchen Behörden gibt es eigens darauf spezialisierte Referate oder Arbeitsgruppen, die sich mit der Psychoanalyse von Zielpersonen befassen. Dabei geht es um wesentlich mehr als nur das bloße Sammeln von Informationen, wie es der BND beispielsweise beim DDR-Staatschef Erich Honecker intensiv betrieben hat.

Vielmehr steht dabei die Interpretation der verfügbaren Erkenntnisse im Vordergrund, um besser zu verstehen, was die jeweilige Person antreibt, welchen inneren und äußeren Zwängen und Bedürfnissen sie unterliegt, und wie zukünftiges Verhalten vorhergesagt werden kann.

Als einer der frühesten Fälle einer solchen politischen Psychopathographie gilt eine Analyse, die während des Zweiten Weltkriegs im Auftrag der CIA-Vorgängerorganisation Office of Strategic Services (OSS), verfasst wurde. Der Historiker William Langer war ein hochrangiger Mitarbeiter des OSS und soll den damaligen Leiter des Geheimdienstes, William J. Donovank, davon überzeugt haben, dass es sinnvoll wäre, den Kriegsgegner von Psychologen einschätzen zu lassen. Er soll dabei auch gleich einen Fachmann vorgeschlagen haben: Seinen Bruder.

Der Psychologe Walter Charles Langer hatte 1923 an der Universität von Harvard promoviert, als Soldat war er zuvor im Ersten Weltkrieg in Frankreich eingesetzt. In den 1930er Jahren studierte Langer in Wien Psychoanalyse und war mit Anna Freud befreundet, der Tochter von Sigmund Freud. Der US-Amerikaner Langer half dem berühmte Psychologen Ende 1930er auch bei der Flucht aus Österreich nach Großbritannien.

Langer wurde schließlich zum Projektleiter und erstellte mit weiteren Experten, darunter Henry A. Murray, dem ehemaligen Leiter der Harvard Psychological Clinic, im Jahr 1943 für das OSS ein psychanalytisches Profil von Adolf Hitler. Der Bericht trägt den Titel Analysis of the Personality of Adolph Hitler: With Predictions of His Future Behavior and Suggestions for Dealing with Him Now and After Germany’s Surrender.

Die Grundlage für die Analyse waren Informationen des US-Militärs, des OSS und von Diplomaten, die Hitler getroffen hatten. Zudem wurden die Schriften des Nazi-Anführers ausgewertet und seine Biografie studiert. In dem Bericht prognostizierten Walter Langer und seine Kollegen, das Hitler den Krieg mit aller Härte fortsetzen und letztendlich wohl Suizid begehen werde. Im Jahr 1972 wurde die Untersuchung schließlich als Buch mit dem Titel The Mind of Adolf Hitler veröffentlicht.

Im US-Auslandsgeheimdienst CIA gibt es zu Ehren des 1981 verstorbenen Psychoanalytikers Walter Langer heute einen „Langer-Award“. Es ist die höchste Auszeichnung für Analysten und Profiler in der CIA.

Die Analyse des Gegners, nicht nur auf Grundlage von abgehörten Telefonaten oder über Quellen beschafften Informationen, sondern durch die Vernetzung und Kombination von Fachleuten unterschiedlicher Disziplinen, wie etwa Psychologen, Soziologen, Politikwissenschaftlern und Historikern, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der CIA und auch dem US-Militär fortgesetzt. So analysierten die amerikanischen Geheimdienstler etwa im Jahr 1961 auch den sowjetischen Staatschef Nikita Khrushchev und den kubanischen Revolutionsführer Fidel Castro.

Als einer der Pioniere in dem Feld der politischen Psycholo-Analyse innerhalb der Geheimdienste gilt der US-amerikanische Psychiater Jerrold Post (1934-2020), der an der Yale-Universität studiert und später an der Harvard Medical School gearbeitet hat. Mitte der 1960er Jahre wurde Post von der CIA rekrutiert und erstellte für den Geheimdienst Persönlichkeitsprofile von ausländischen Politikern. Er gründete zudem das Center for the Analysis of Personality and Political Behavior in der CIA und wurde dessen Direktor.

Mehr als 20 Jahre arbeitete Jerrold Post für die CIA, er analysierte dabei unter anderem den irakischen Diktator Saddam Hussein und Libyens Muammar al-Gaddafi. Bekannt wurde zudem Posts Einschätzungen zu Israels Premier Menachem Begin und dem ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat vor den Friedensverhandlungen von Camp David im Jahr 1979.

Später dann nahm sich der Psychologe sogar einen US-Präsidenten vor: Donald Trump. Post hielt Trump für gefährlich und entschied sich seine Studienergebnisse öffentlich zu machen. Im Jahr 2019 erschien sein Buch Dangerous Charisma: The Political Psychology of Donald Trump and His Followers, in dem er Trump einen „gefährlichen, destruktiv charismatischen Führer“ nannte. Ein Jahr später, im November 2020, starb Jerrold Post an den Folgen einer Corona-Infektion.

In Deutschland beschäftigt sich auch der Bundesnachrichtendienst (BND) inzwischen intensiver mit der Psyche von Staatsoberhäuptern. Ob der Dienst ebenfalls den US-Präsidenten Trump auf diese Weise studiert hat, ist nicht bekannt. Aus dem BND hieß es dazu stets nur, die USA seien kein Aufklärungsziel. 

Vor einigen Jahren aber hat der deutsche Auslandsgeheimdienst in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe, an der Psychologen und Politologen beteiligt waren, eine tiefgreifende Analyse zum nordkoreanischen Diktator Kim Jong-Un erstellt. 

Darin ging es unter anderem um die Fragen, ob der Despot seinem Vater und Großvater nacheifern und diese womöglich bei Machtdemonstrationen und dem Ausbau der militärischen Fähigkeiten übertreffen möchte, was ihn von seinen Vorgängern unterscheidet, welche Rollen seine Schwester und seine Tante spielen, und ob Kim Jong-Un tatsächlich an einem entspannteren Verhältnis zu Südkorea interessiert sein könnte.

Auch mit Wladimir Putin hat sich der BND eingehend befasst – und dabei auch immer wieder versucht, zu prognostizieren, wie der ehemalige KGB-Major agieren könnte und welche Strategie er verfolgt. Bislang, so heißt es im Dienst, gebe es keine ernstzunehmenden Hinweise darauf, dass Putin tatsächlich verrückt geworden sei oder durchweg irrational handeln würde. 

Er habe sich in den vergangenen Jahren der Corona-Pandemie allerdings weitestgehend abgeschottet, der Kreis seiner Berater sei immer kleiner geworden, er sei sehr mit dem Studium historischer und ideologischer Schriften befasst und interessiere sich kaum noch für Wirtschafts- und oder Innenpolitik.

Das Pentagon, genauer gesagt, das Office of Net Assessment (ONA), ein interner Think Tank des US-Verteidigungsministeriums, der sich mit Trends, Zukunftsszenarien und Risiken befasst, hatte im Jahr 2008 eine Studie zu Putin in Auftrag gegeben. Mehrere Fachleute, darunter auch eine Expertin für Bewegungsmuster und Körpersprache am U.S. Naval War College in Newport, analysierten daraufhin den russischen Präsidenten. 

In dem Bericht kamen die Autorinnen und Autoren zu dem Fazit, dass bei Putin möglicherweise eine Form des Asperger-Syndroms vorliegen könnte, „eine autistische Störung, die alle seine Entscheidungen beeinflusst“. Weiter heißt es in der Studie: „Seine primäre Form der Ersatzhandlung ist extreme Kontrolle“, die sich „in seinem Entscheidungsstil und seiner Art zu regieren widerspiegelt“

Zudem finden sich in dem Papier auch Ratschläge zum Umgang mit dem russischen Präsidenten. „Von Putin, dem privaten Entscheidungsträger, kann nicht erwartet werden, dass er mit anderen in einen öffentlichen Austausch über die Interpretation von Informationen oder eine endgültige Vorgehensweise eintritt“, heißt es darin.

Jerrold Post, der langjährige Chef-Psychoanalytiker der CIA, beschreibt Wladimir Putin in seinem 2019 erschienen Buch Dangerous Charisma als einen brutalen, rücksichtslosen Diktator und Narzissten, der getrieben sei von „Maskulinität, Größe, Stärke und Macht“ und seine Unsicherheiten mit „übertriebener Gegenwehr“ kompensiere. Putin sei außerdem oft darauf bedacht „pseudo-legale Rechtfertigungen“ für sein Handeln zu konstruieren. „Putin sehnt sich danach, als respektierter Weltführer anerkannt zu werden“, so schreibt Post. „Und er versteht, dass für diesen Respekt seine Taten rational und legitim erscheinen müssen.“

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