Durch Russlands Angriff auf die Ukraine ist das Schreckgespenst eines Atomkrieges plötzlich wieder in aller Munde. Dass Russland heute über ein nukleares Arsenal verfügt, hat der Kreml auch einem Deutschen zu verdanken. Die Geschichte eines Verrats, der die Welt verändert hat.
Von Florian Flade

Der Friedhof im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichsfelde ist kaum besucht an diesem sonnigen Tag im Mai. In den Bäumen zwitschern Vögel, eine Frau geht mit einem Hund an der Leine spazieren, eine andere sitzt auf einer Parkbank und telefoniert. Sie spricht Russisch. Im südlichen Teil der großen Friedhofsanlage liegt die Gedenkstätte der Sozialisten, eingeweiht 1951 in der DDR als Ruheort für Personen, die sich für für den deutschen Sozialismus engagiert haben. Rosa Luxemburg liegt hier begraben, ebenso Karl Liebknecht.
Am Pergolenweg, direkt hinter dem Denkmal, sind die Gräber in mehreren Reihen angeordnet. Hier wurde einige der prominentesten Geheimdienstler der ehemaligen DDR bestattet. Markus Wolf beispielsweise, der legendäre Chef der DDR-Auslandsspionage. Nur wenige Meter daneben befindet sich das Grab eines Mannes, der zum Verräter wurde und damit die Geschichte auf entscheidende Weise beeinflusst hat. Ein Ausschuss in den USA hat seine Taten untersucht und kam zu dem Fazit, dass er „den größten Verrat in der Geschichte der Menschheit“ begangen habe.
Klaus Fuchs war kein Geheimdienstmann, kein Spion, sondern ein Wissenschaftler. Ein Atomphysiker, der beim Bau der ersten Nuklearwaffen in den USA beteiligt war. Und der schließlich die Baupläne an die Sowjetunion verriet.
Fuchs wurde 1911 im hessischen Rüsselsheim geboren, besuchte ein humanistisches Gymnasium im thüringischen Eisenach, galt als Mathe-Talent. Der spätere Kernphysiker war in jungen Jahren Mitglied zunächst in der SPD, dann in der KPD, und floh 1933 vor den Nazis nach Frankreich, dann weiter nach Großbritannien. Zwei seiner Geschwister wurden durch die Nazis getötet, der Vater, ein linker Sozialdemokrat und Theologe, kam eine zeitlang ins Gefängnis.
Klaus Fuchs hatte Mathematik in Leipzig und später in Kiel studiert, nach seiner Flucht nach Großbritannien studierte er noch Physik in Bristol. Er promovierte und ging anschließend nach Edinburgh. Sein Studium konnte er durch ein Stipendium absolvieren, zweitweise lernte er bei den späteren Nobelpreisträgern Nevill Mott und Max Born. Fuchs galt als hochintelligent und äußerst fähiger Wissenschaftler und arbeitete ab Mai 1941 am britischen Atomforschungsprogramm mit.
Als Hitler den Russlandfeldzug begann, soll Klaus Fuchs davon überzeugt gewesen sein, dass die USA einen Vernichtungskrieg zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion zugelassen oder sogar provoziert hätten. Der überzeugte Kommunist entschied sich daher zum Verrat.
Über einen befreundeten Sozialisten, den späteren DDR-Historiker Jürgen Kuczynski, und dessen Schwester Ursula, die als „Ruth Werner“ bekannte KGB-Agentin, nahm der Atomwissenschaftler schließlich Ende 1941 den Kontakt zum sowjetischen Militärgeheimdienst auf und verriet fortan Informationen über den Stand der britischen Atomforschung.
Ein Glücksfall für Moskau war es, dass Klaus Fuchs mit weiteren britischen Wissenschaftlern im Dezember 1943 in die USA abgeordnet wurde, wo er an einem streng geheimen Vorhaben teilnahm – dem „Manhattan Project“, dem Bau der ersten Atombombe.
Die US-Regierung hatte damals ein Team unter Leitung des US-amerikanischen Physikers Robert Oppenheimer damit beauftragt, eine Nuklearwaffe zu entwickeln. Zunächst wurde in New York an der Verwendung von Uran geforscht, später dann in einer Arbeitsgruppe des deutsch-amerikanischen Wissenschaftlers Hans Bethe in den Los Alamos National Laboratory im US-Bundesstaat New Mexico an Plutonium.
Klaus Fuchs wirkte entscheidend daran mit, dass waffenfähiges Plutonium zur Explosion gebracht werden konnte. Seine Arbeit soll insbesondere bei der Konstruktion der 4,7 Tonnen schweren Bombe „Fat Man“, die nach einem ersten Atombomben-Angriff auf Hiroshima von der US-Luftwaffe am 09. August 1945 auf Nagasaki abgeworfen wurde. Die Explosion der Bombe soll bis zu 35.000 Menschen unmittelbar getötet haben.
Noch während seiner Zeit beim „Manhattan Project“ verriet Klaus Fuchs die Baupläne und Ergebnisse der Bombentests an die Sowjets. Sein Verbindungsmann dabei war Harry Gold, ein amerikanischer Chemieingenieur, der ebenfalls als Spitzel für den KGB tätig war. Der sowjetische Geheimdienst nahm die Unterlagen dankbar entgegen und meldeten die wertvollen Informationen auch zeitnah nach Moskau. Sowjetführer Josef Stalin soll allerdings zunächst kaum Interesse an der Atombombe gezeigt haben, er war offenbar überzeugt davon, dass konventionelle Kriegsformen zielführender seien.
Erst nach den ersten und bis heute einzigen Atombomben-Einsätzen gegen Japan wuchs bei der Sowjetführung der Wunsch, schnellstmöglich auch in den Besitz solcher Waffen zu gelangen. Die Informationen, die Klaus Fuchs verraten hatte, erwiesen sich dabei als äußerst nützlich. Mehrere Jahre Entwicklungsarbeit hatten sich die Sowjets wohl durch die von Fuchs verratenen Informationen zum Bau der Atombombe gespart. Durch seinen Verrat war die Sowjetunion in der Lage schnell auf den Stand der amerikanische Atomwaffenforschung aufzuschließen und schließlich eigene Nuklearwaffen zu entwickeln.
Am 29. August 1949, gegen 7 Uhr, explodierte auf dem Testgelände Semipalatinsk auf dem Territorium von Kasachstan die erste sowjetische Atombombe mit dem Codenamen RDS-1. Sie entsprach größtenteils dem Design der amerikanischen Bombe „Fat Man“, an deren Entwicklung Klaus Fuchs maßgeblich beteiligt war. Es war der Beginn des atomaren Wettrüstens zwischen den USA und der Sowjetunion. Und der Auftakt zu einem Kalten Krieg zwischen den beiden Atommächten, der Jahrzehnte andauern sollte.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte Klaus Fuchs, der inzwischen britische Staatsbürger war, nach Großbritannien zurück und leitete ab 1946 den Bereich Theorie im Kernforschungszentrum in Harwell. Seine Arbeit fand weiterhin hohe Anerkennung, so dass er sogar für die Aufnahme in die Wissenschaftsakademie Royal Society vorgeschlagen wurde.
In den USA war man indes bereits auf die Spur des Verräters gekommen. Die US-Bundespolizei hatte vermutet, dass geheime Informationen aus dem „Manhattan Project“ an die Sowjets verraten worden waren. Nur, um wen es sich dabei handelt, war lange unklar. Bis die US-Ermittler in der Lage war, die verschlüsselte Kommunikation des sowjetischen Geheimdienstes zu knacken.
Noch während des Zweiten Weltkrieges startete der amerikanische Militärgeheimdienst das Projekt „Venona“. Ziel war es, die kryptierten Botschaften der Sowjetunion, insbesondere aus den Botschaften und Konsulaten, zu entschlüsseln. In den US-Diensten herrschte damals großes Misstrauen gegen die Sowjetführung, obwohl man eigentlich im Kampf gegen Deutschland verbündet war. Die Befürchtung war, dass Stalin möglicherweise ein eigenes Friedensabkommen mit Hitler schließen könnte. Daher entschied man sich, die Sowjet-Kommunikation zu überwachen.
Mehrere abgefangene Nachrichten, die allerdings erst später entschlüsselt werden konnten, hatten augenscheinlich Bezüge zum amerikanischen Atomwaffenprogramm in Los Alamos. Am 10. April 1945 etwa war in einer Meldung, die von Moskau an das US-Konsulat in New York geschickt wurde, die Rede von einem „Charles“, dessen gelieferte Informationen „von großem Wert“ gewesen seien. Es hieß, darunter seien „Daten der atomaren Masse der nuklearen Explosion“ gewesen. In anderen Meldungen wurde die Quelle auch „Rest“ genannt.
Erst im Spätsommer 1949 – auch durch die Verhaftung des KGB-Spitzels Harry Gold – war das FBI in der Lage, den sowjetischen Maulwurf zu identifizieren: Es war Klaus Fuchs. Der Physiker war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder in Großbritannien, also informierten die amerikanischen Ermittler ihre britischen Kollegen, die Fuchs fortan überwachten.
Im Februar 1950 wurde Klaus Fuchs unter Spionageverdacht festgenommen. Zum Erstaunen der Ermittler und seines Anwalts legte er ein umfassendes Geständnis ab, und leugnete gar nicht erst für den sowjetischen Geheimdienst gespitzelt zu haben. Besonders geschockt gewesen sein soll der stellvertretende Leiter des britischen Geheimdienste MI5, ein enger Freund von Fuchs.
Der Prozess gegen Fuchs fand am 01. März 1950 vor dem Strafgerichtshof Old Bailey in London statt. In der Anklage hieß es, Fuchs habe zwischen 1943 und 1947 an vier Orten – Birmingham, New York, Boston und Berkshire – geheime Informationen an eine fremde Nation verraten. Fuchs bekannte sich schuldig.
Zu 14 Jahren Gefängnis wurde der Physiker schließlich verurteilt, der Richter nannte ihn „den gefährlichsten Mann“ in Großbritannien. Eine höhere Strafe bekam Fuchs unter anderem deshalb nicht, weil er für die Sowjetunion gearbeitet hatte, die im Weltkrieg ein verbündeter und eben kein verfeindeter Staat gewesen war.
Fuchs machte aus seiner Motivation für den Verrat keinen Hehl. Er sei der Überzeugung gewesen, dass eine Atombombe der Sowjetunion im Kampf gegen Nazi-Deutschland helfen könnte. Zudem sei es aus seiner Sicht gefährlich, wenn nur ein Land solche Waffen besitze. Eine sowjetische Bombe würde weitere Einsätze der apokalyptischen Waffen eher unwahrscheinlicher machen – und somit für ein Gleichgewicht sorgen.
„Ich war der Ansicht, dass etwas mit einem so ungeheuren Vernichtungspotenzial den Großmächten in gleichem Maße zugänglich sein musste“, erklärte Klaus Fuchs später einmal „Indem ich auch der anderen Seite die Bombe gab, habe ich das Gleichgewicht der Kräfte wiederhergestellt. Darum ist es in jenen Jahren nicht zum Krieg gekommen.“
Neun Jahre und vier Monate saß Fuchs in Großbritannien im Gefängnis, dann wurde seine Strafe 1959 zur Bewährung ausgesetzt und der Wissenschaftler reiste schließlich in die DDR aus. Er zog nach Leipzig zu seinem Vater, einem Professor der evangelischen Theologie und Pfarrer, und überzeugten Sozialisten, und heiratete die SED-Funktionärin Margarete „Grete“ Keilson.
In der DDR wurde der Atom-Spion zu einem bedeutenden Wissenschaftler, er wurde stellvertretender Direktor des Forschungszentrums Zentralinstitut für Kernforschung (ZfK) im sächsischen Rossendorf. Außerdem lehrte er an der Technischen Universität von Dresden, war Mitglied im Präsidium der Akademie der Wissenschaften der DDR und leitete zahlreiche Forschungsvorhaben. Für seine Dienste erhielt Fuchs unter anderem den Karl-Marx-Orden, den Vaterländischen Verdienstorden und 1975 den Nationalpreis.
Am 28. Januar 1988 starb Klaus Fuchs in Ost-Berlin. Zehn Jahre später verstarb seine Frau Margarete, deren Urne ebenfalls im Grab auf dem Friedhof in Friedrichsfelde beigesetzt wurde. Öffentliche Auftritte und Aussagen gab es von dem verurteilten Verräter, der wohl den Weg in den Kalten Krieg der Atommächte ebnete, zuletzt kaum noch. Einmal hatte Klaus Fuchs über sich gesagt: „Ich habe mich nie als Spion gesehen.“
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