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Die Jagd nach Terroristen mit Tarnkappe

von Florian Flade

Der „Islamische Staat“ (IS) hat Terrorzellen nach Europa entsandt – getarnt als Flüchtlinge. Mindestens zwei Attentäter aber konnten aufgehalten werden, bevor sie morden konnten. Die Geschichte einer Jagd quer durch Europa.

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Adel H. und Mohamed Ghani U. – IS-Terrorverdächtige sitzen in Salzburg in Haft

Diese Geschichte könnte in einer Novembernacht mitten in Paris beginnen. Oder auf einer kleinen griechischen Insel im Oktober. Vielleicht aber auch irgendwann im Spätsommer vergangenen Jahres im Norden von Syrien. Doch eigentlich beginnt sie noch viel früher. An einem Sonntagabend, dem 21. September 2014.

Da tauchte im Internet eine Tonbandnachricht der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) auf. Der Mann, dessen Stimme darin zu hören ist, gilt bis heute als Phantom. Seine echte Identität ist nicht bekannt, es gibt kaum authentische Fotos von ihm. Und das, obwohl er eine wichtige Funktion inne hat. Abu Mohammed al-Adnani ist der offizielle Sprecher des IS. Sozusagen die Stimme des Terror-Kalifats.

Adnanis Botschaft an jenem Tag war eine Warnung. Mehr noch: Eine Kriegserklärung an die Europäer. „Wir werden euch in euren Heimatländern angreifen!“, prophezeite der IS-Sprecher. Die in Europa lebenden Muslime rief er auf, Anschläge zu begehen. Speziell gegen „die boshaften und dreckigen Franzosen“.

Der IS hat Europa im Visier – das war die unmissverständliche Botschaft. Aus Sicht der europäische Geheimdienste aber gab es damals noch keine Hinweise darauf, dass demnächst mit IS-Terror zu rechnen sein könnte. Die Organisation verfolge weiter eine „regionale Agenda“, hieß es. Es gehe vor allem um „Terroritorialgewinne“ vor Ort. Um eine Expansion des Kalifats in der Region.

Ein gefährlicher Trugschluss. In Wahrheit arbeiteten die Dschihadisten längst daran, den Terror nach Europa zu bringen. Eine internationale Koalition, angeführt von den USA, hatte im Herbst 2014 damit begonnen, den IS im Irak und Syrien zu bombardieren. Aus Sicht der Terroristen ein Angriff von außen – einer, auf den sie mit Vergeltung reagieren mussten.

Der IS soll dafür eigens eine Abteilung für „Externe Operationen“ gegründet haben, an der Spitze soll Abu Mohammed al-Adnani stehen. Die Einheit ging, so beschrieben es europäische IS-Dschihadisten nach ihrer Rückkehr in Verhören, aus dem internen IS-Geheimdienst „Amniyat“ hervor. Gezielt sollen Islamisten aus dem Westen für diese Elitetruppe rekrutiert worden sein. Extremisten, die sich in Europa auskennen, dort aufwuchsen, bei ihrer Rückkehr womöglich sogar Freunde und Helfer aktivieren können.

Der Mann, dem die Aufgabe übertragen worden sein soll, Anschläge in Europa zu planen, war ein Belgier. In Syrien nannte er sich „Abu Omar al-Belgiki“. Geboren wurde er am 08. April 1987 als Abdelhamid Abaaoud im Brüsseler Vorort Molenbeek. Der ehemalige Kleinkriminelle entwickelte sich zu einem äußerst kreativen und damit gefährlichem Kader in der Terrorgruppe. Jemand, der energisch und mit großer Geduld nach passenden Rekruten Ausschau hielt, sie teilweise sogar selbst schulte und anschließend nach Europa entsandte, um dort im Namen des IS zu morden.

Abaaoud soll Mehdi Nemmouche, den französische Syrien-Rückkehrer, der im Mai 2014 im Jüdischen Museum von Brüssel vier Menschen erschoss, gekannt haben. Außerdem steuerte er jene Terrorzelle, die im Januar 2015 im belgischen Verviers Anschläge vorbereitete und durch einen Polizeieinsatz wohl noch kurz vor Ausführung gestoppt werden konnte. Ebenso soll Abdelhamid Abaaoud den Franzosen Sid Ahmed Ghlam instruiert haben, in Paris eine Kirche an einem Sonntag, während eines Gottesdienstes, anzugreifen. Nur weil sich Ghlam auf dem Weg dorthin versehentlich mit einem Sturmgewehr ins Bein schoss, gab es kein Blutbad.

Abdelhamid Abaaoud nahm den Auftrag des IS offensichtlich sehr ernst. Er versuchte es immer wieder mit dem Terror in Europa. Die hiesigen Sicherheitsbehörden wussten das, es gab mehrfach Besprechungen zwischen den Nachrichtendiensten, zuletzt am Tag der Anschläge von Paris. Dabei ging es auch um die Frage, wie gefährlich der Belgier für Europa werden könnte. Und was dort in den Terrorcamps von Syrien noch so alles geplant wird.

Womit die Geheimdienste nicht rechneten, war, dass ein historischer Zufall Abaaoud in die Karten spielen würde. Im vergangenen Jahr spitzte sich eine der aktuell größten politischen Herausforderungen für den Kontinent maßgeblich zu: Die Flucht von hunderttausenden Menschen aus den Bürgerkriegen in die Europäische Union. Sie kamen aus Syrien, Irak, Afghanistan, aus Eritrea, Somalia, Nigeria, Pakistan und zahlreichen anderen Krisenherden der Welt. Geflüchtet vor Krieg, Terror, Hunger, Armut und Leid, mit der Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit, nahmen sie lebensgefährliche Überquerung des Mittelmeers in Kauf, reisten zu Fuß über Wochen die sogenannte Balkan-Route gen Norden.

Die Terrorstrategen des IS sahen ihre Chance gekommen. Ihr perfider Plan: Attentäter als Flüchtlinge getarnt nach Europa zu schicken. Die Grenzsicherung der EU war im Herbst vergangenen Jahres mit dem Zustrom der Flüchtlinge völlig überfordert. Es fehlte an Registrierungen, und denen die kamen, fehlte es oft an Ausweisdokumenten. Niemand wusste mehr, wer da genau einreiste. Ideale Umstände, um Terroristen über Grenzen hinweg, durch mehrere Staaten hindurch zu schleusen. Selbst jene Dschihadisten, die vielleicht bei den sonst üblichen Grenzkontrollen aufgefallen wären, gingen nun im Chaos und der Masse unter.

Es sei „unwahrscheinlich, dass Terroristen die waghalsige Bootsflucht über das Mittelmeer nutzen, um nach Europa zu gelangen“, sagte der scheidende BND-Präsident Gerhard Schindler damals. Bis heute heißt es, es gab keinerlei Belege für ein solches Vorgehen des IS. Ausgeschlossen, so betonen Geheimdienstler im Gespräch vehement, habe man diese Möglichkeit jedoch ausdrücklich nie.

Wie falsch die Hypothese der Terrorfahnder war, wurde jedoch erst an einem Freitag, dem 13. November 2015 klar. Gleich mehrere Terrorkommandos schossen und bombten sich in jener Nacht durch Paris. Sie ermordeten 130 Menschen und setzten damit das Versprechen des IS-Sprechers Abu Mohammed al-Adnani auf blutige Weise in die Tat um. Es war vollbracht: Der IS hatte in Europa zugeschlagen.

Noch während die Menschen in Frankreich und anderenorts in Schock und Trauer verharrten, begann für die Ermittler in Paris die eigentliche Arbeit. Wer waren die Mörder? Wie war es die Terroristen gelungen derartige multiple Anschläge durchzuführen? Und das nur zehn Monate nach dem verheerenden Attentat zweier Islamisten auf die Redaktion des Satire-Magazins Charlie Hebdo.

Einer der Selbstmordattentäter vom 13. November hatte sich während des Freundschaftsspiels Frankreich vs. Deutschland vor dem Fußballstadion Stade de France, am Eingangstor D, in die Luft gesprengt. Er hatte wohl noch versucht, in das Stadion zu gelangen, war aber von Sicherheitspersonal daran gehindert worden.

Die Polizei fand schließlich den zerfetzen Leichnam des Terroristen. Daneben stießen die Ermittler auf einen ersten, aber entscheidenden Hinweis, wie der IS das Massaker wohl vorbereitet hatte. Neben dem abgerissenen rechten Fuß des Selbstmordbombers lag ein syrischer Reisepass. Nahezu unversehrt wirkte es so, als hätte ihn der Terrorist noch absichtlich von sich geworfen, bevor er seinen Sprengsatz gezündet hatte.

„Ahmad Almohammad“, stand auf dem Pass, geboren am 10. September 1990 in Idlib, Syrien. Es war die erste heiße Spur auf der Jagd nach den Paris-Attentätern. Umgehend starteten die französischen Behörden eine Abfrage in den Datenbanken. Die Informationen zu „Ahmad Almohammad“ wurden den europäischen Sicherheitsbehörden mitgeteilt. Schon nach wenigen Stunden gab es eine positive Rückmeldung. Aus Griechenland.

Ein Mann mit genau jenem syrischen Pass war nur knapp sechs Wochen zuvor auf der Insel Leros von griechischen Grenzbeamten als Flüchtling registriert worden. Es gab ein Foto des angeblichen Syrers. Und Fingerabdrücke. Sie stimmten mit dem Attentäter vom Stade de France überein. Aber damit nicht genug. Auch ein zweiter Terrorist, der sich vor dem Fußballstadion in die Luft gesprengt hatte, gab sich bei seiner Einreise in Griechenland als syrischer Flüchtling aus. Sein Name: „Mohammad Almahmod“, geboren am 01. Januar 1987.

Blitzschnell verbreitete sich am Folgetag nach den Paris-Anschlägen die Meldung: Pässe gefunden, auch syrische Flüchtlinge gehörten wohl zu den Attentätern. In Wahrheit war dies aber nur die Tarnung, mit der die Männer nach Europa gekommen waren. Die Angaben auf ihren Pässen waren falsch – die Ausweise an sich aber keine Fälschungen im eigentlichen Sinne. Und genau das elektrisierte die Ermittler.

„Ahmad Almohammad“ und „Mohammad Almahmod“ verfügten über authentische syrische Reisepässe. Sie trugen die Passnummern 0079814047 und 007773937. Für letzteren Pass gab es im Schengener Informationssystem (SIS) eine sogenannte „Sachfahndung“, nach diesem Pass wurde also bereits vor den Anschlägen von Paris gesucht.

Die Terrororganisation IS hatte bei ihrem Feldzug zahlreiche Städte und Ortschaften in Syrien unter ihre Kontrolle gebracht, darunter Raqqa und Deir ez-Zour. Den Dschihadisten fielen dabei nicht nur Militärkasernen, Waffenlager oder Gefängnisse in die Hände. Sondern auch Verwaltungsgebäude, und somit auch jene Stellen, in denen Ausweisdokumente ausgestellt wurden. Kurzum: Der IS hatte vermutlich tausende von Blanko-Pässen sowie Anlagen zur Pass-Herstellung erbeutet. Die Terroristen waren damit in der Lage, authentische syrische Reisepässe anzufertigen – auf jede erdenkliche Identität und mit beliebigen Angaben.

Der Umstand, dass der IS in den Besitz von syrischen Pässen gelangt war, war den europäischen Sicherheitsbehörden bekannt. Es war eines ihrer Horrorszenarien. Wie aber könnte verhindert werden, dass der IS diese „echten falschen“ Ausweise benutzt, um Kämpfer nach Europa zu schleusen?

Entscheidende Hilfe kam von einer eher unerwarteten Seite. Das syrische Regime übermittelte den Europäern schon im Sommer 2014 mehrere Listen mit Passnummern jener 3800 Blanko-Dokumente, die mutmaßlich vom IS gestohlen worden waren. In Raqqa waren wohl 1452 Pässe mit den Nummern 007773549 bis 007775000 abhanden gekommen. In Deir ez-Zour sogar 2348 Pässe mit den Nummern 006875653 bis 006876000, 006910001 bis 006911000 und 006951001 bis 006952000.

Die griechischen Behörden schrieben die Dokumente am 24. Juni 2014 im SIS-System zur Fahndung aus. Und auch die deutsche Bundespolizei pflegte die Passnummern in ihre Datenbanken ein. In einem internen Warnschreiben hieß es zudem, beim Antreffen einer Person mit einem dieser Pässe, sei große Vorsicht geboten – „Eigensicherung beachten!“ – außerdem sei unverzüglich die jeweilige Staatsschutzabteilung zu informieren.

Zwei der Paris-Terroristen waren also mit Pässen aus Syrien eingereist, die der IS vermutlich selbst produziert hatte. Und die eigentlich im Schengenraum zur Fahndung ausgeschrieben waren. Wieso aber kamen die späteren Selbstmordattentäter ungehindert nach Europa? Und wenn sie auf diese Weise hinein gelangten, gab es dann noch weitere Terroristen, die mit der Tarnung als Flüchtling gekommen waren?

Umgehend wurden die Ermittlungen auf jenes Boot ausgeweitet, mit denen die beiden Dschihadisten von der Türkei nach Griechenland gekommen waren. Im Herbst vergangenen Jahres, zur Hochzeit der Flüchtlingskrise, kamen zeitweise tausende Menschen täglich auf den griechischen Inseln an. Eine ihrer Anlaufstellen war Leros, knapp 100 Kilometer von der türkischen Küste entfernt.

In den frühen Morgenstunden des 03. Oktober 2015 kamen mehrere Boote mit insgesamt 198 Menschen nach Leros. Die meisten Passagiere gaben an, aus dem syrischen Bürgerkrieg geflohen zu sein. Ihre Daten wurden notiert, Fingerabdrücke genommen, zusätzlich wurden Fotos gemacht. Auf Leros sollen die griechischen Beamten zwar Zugang zum EURODAC-System, nicht aber zum SIS gehabt haben, heißt es. Das wäre eine Erklärung, weshalb die eigentlich zur Fahndung ausgeschriebenen Pässe aus Raqqa zunächst nicht auffielen.

So konnten „Ahmad Almohammad“ und „Mohammad Almahmod“ nach ihrer Registrierung ungehindert weiterreisen, beantragten an verschiedenen Stellen auf der Balkan-Route Asyl und landeten letztendlich in Frankreich.

Griechische Behörden übermittelten den europäischen Partnern die gesamte Liste der am 03. Oktober 2015 auf Leros registrierten Flüchtlinge. Es handelt sich dabei um die Registrierungsbögen von 142 Menschen, all jener, die älter als 16 Jahre waren.

In Berlin-Treptow befindet sich eine Liegenschaft des Bundeskriminalamtes (BKA). Hier residiert die Gruppe Staatsschutz 4, zuständig für Islamistischen Terrorismus. Gemeinsam mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das auf demselben Gelände untergebracht ist, sah man sich in den Tagen nach den Paris-Attentaten die Flüchtlinge von Leros sehr genau an. Die These: Es kamen vermutlich noch weitere Terroristen an jenem Oktobermorgen nach Griechenland.

„Wir gingen davon aus, dass sich diese Personen als Asylbewerber getarnt vielleicht schon in Deutschland aufhalten“, berichtet ein Ermittler. Immerhin sei die Mehrzahl der Flüchtlinge im vergangenen Jahr in die Bundesrepublik gereist. So vermutlich auch weitere getarnten IS-Terroristen.

Also wurde versucht sämtliche Flüchtlinge aus Leros aufgrund ihrer Daten zu lokalisieren. Einige waren inzwischen in Schweden aufgetaucht, viele in Deutschland, andere in Slowenien. Doch gab es IS-Schläfer darunter?

Die BKA-Beamten legten die Listen der gestohlenen syrischen Blanko-Pässe neben die Registrierungsbögen aus Leros. Es gab zwei Treffer. Zwei weitere Männer hatten bei ihrer Ankunft in Griechenland Pässe vorlegt, die aus den IS-Beständen stammten. Auch sie gaben sich als Syrer aus – „Khaled Alomar“, geboren am 01. Januar 1980 in Aleppo. Und „Faysal Alaifan“, geboren am 05. Januar 1981.

Wo waren die beiden jetzt?

Beim BKA wurde eine Besondere Aufbauorganisation, die BAO „Echo“, ins Leben gerufen. Sie sollte ermitteln, wo sich die Terrorverdächtigen aufhalten. Einen ersten Hinweis lieferten die griechischen Behörden. Sie konnten rekonstruieren, dass die Männer von Frontex-Beamten bei ihrer Ankunft in Leros befragt worden waren. Dabei kamen erste Zweifel auf, ob es sich tatsächlich um Syrer handelte. „Faysal Alaifan“ sprach kaum Arabisch. „Khaled Alomar“ wiederum konnte keinerlei Fragen zu seinem angeblichen Heimatort Aleppo beantworten.

Es folgte eine Festnahme der Männer – jedoch nicht wegen Terrorverdacht. Sondern aufgrund eines Passdelikts. Sie kamen drei Wochen auf der Insel Kos in Haft und erhielten anschließend die Auflage, Griechenland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Am 27. Oktober 2015 kamen beide frei und konnten am Folgetag ungehindert weiterreisen.

Als die Terrorkommandos unter Anleitung von Abdelhamid Abaaoud in Paris einen der schwersten Terroranschläge in der jüngeren europäischen Geschichte verübten, befanden sich die beiden Männer vom Flüchtlingsboot noch auf Reisen. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien kamen sie Anfang Dezember über den Grenzübergang Spielfeld nach Österreich. Sie gaben sich erneut als Flüchtlinge aus – diesmal allerdings aus Nordafrika stammend, mit den Namen „Nasser Said Moqaiss“ und „Mohamad al-Fatori“.

In diesen Tagen gab es bereits die ersten Fahndungen nach ihnen. Sowohl Behörden in Deutschland, als auch in Frankreich und Österreich gaben die Informationen zu den beiden Gesuchten im Schengener Informationssystem (SIS) ein. Da die echten Identitäten aber nicht klar waren, befanden sich dort lediglich die Alias-Namen, die sie bislang verwendet hatten sowie die Fotos, die von ihnen auf Leros und später in der Haft gemacht worden waren.

Interessant außerdem: Die mutmaßlichen IS-Terroristen waren nicht zur Festnahme ausgeschrieben, sondern lediglich zur „verdeckten Kontrolle“ (Österreich), „gezielten Kontrolle“ (Frankreich) oder zur „Polizeilichen Beobachtung“ (Deutschland). Der Grund dafür waren die mangelnden Belege für einen Terrorbezug. „Wir haben mit den Fahndungseinträgen ein Netz gelegt. Und wir wollten wissen, wo sie sich aufhalten“, sagt ein eingeweihter Ermittler. „Aber wir hatten nicht genug, um sie zu verhaften.“

Es soll das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gewesen sein, das letztendlich den entscheidenden Hinweis auf die Männer an die österreichischen Behörden übermittelte. So konnten sie in einer Flüchtlingsunterkunft in Salzburg ausfindig gemacht werden. Am Abend des 10. Dezember 2015 stürmte die Eliteeinheit „Cobra“ das Asylbewerberheim in der Münchner Straße und nahm beide Personen unter Terrorverdacht fest.

Mehr als 100 Stunden wurden die beiden Männer seitdem befragt, teilweise in Anwesenheit von französischen Geheimdienst-Mitarbeitern, die eigens eingeflogen kamen. Im Verhör gaben sie nicht nur ihre echten Identitäten preis – Adel H., 29, aus Algerien, und Mohamed Ghani U., 34, aus Pakistan – sondern bestätigten auch, dass sie tatsächlich für die Terroranschläge von Paris rekrutiert worden waren.

In Syrien habe der IS sie ausgewählt für eine „Mission“ nach Frankreich zu reisen. Im September habe es ein entsprechendes Auswahlgespräch mit einem IS-Kommandeur namens „Abu Ahmad“ in Raqqa gegeben. Dann seien Passfotos für die gefälschten Ausweise gemacht worden. Dann seien sie gemeinsam mit den gebürtigen Irakern, die sich später am Stade de France in die Luft gejagt hatten, zu Fuß in die Türkei gebracht worden. Ein Schleuser fuhr sie angeblich anschließend mit dem Auto bis nach Izmir, wo das Quartett eine Nacht in einem Hotel verbrachte.

Für rund 100 Euro hätten sie anschließend Schwimmwesten und wasserdichte Beutel für die Reisepässe gekauft. Der Schleuser, der die Dschihadisten nach Griechenland bringen sollte, verlangte angeblich knapp 1000 Euro für seine Dienste. In einem Gestrüpp nahe der Küste hätten beide auf die Überfahrt gewartet, berichteten H. und U. in den Vernehmungen. Es sei geplant gewesen, dass zwei Boote mit Flüchtlingen in den frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang nach Leros übersetzen sollten. Eine Gruppe sei jedoch von der türkischen Polizei festgenommen worden. Um 4 Uhr morgens begann die gefährliche Bootsfahrt für die vier Terroristen und dauerte eineinhalb Stunden. Dann griff die griechische Marine das Boot mit den rund 50 Flüchtlingen auf und brachte sie nach Leros.

Die österreichischen Ermittler konfiszierten bei der Festnahme auch die Mobiltelefone von H. und U.. So konnte rekonstruiert werden, dass die beiden wohl mehrfach über WhatsApp-Chat in Kontakt standen mit einem Verbindungsmann in Syrien. Einmal forderten sie Geld für die Weiterreise, und erhielten prompt 2000 Euro per Western Union. Einmal wollten sie wissen, was denn nun ihr Bestimmungsort sein sollte.

Zudem stießen die Ermittler auf einem der Handys auf eine türkische Telefonnummer, die auch auf einem zerknüllten Zettel befand, den einer der Selbstmordattentäter vom Stade de France in seiner Hosentasche bei sich getragen hatte. Die Nummer wird einem IS-Terroristen zugerechnet, der womöglich für die Logistik der Reisen zuständig war. Sie war bereits in einer Wohnung in Athen gefunden worden, aus der heraus Abdelhamid Abaaoud die Terroristen von Verviers instruiert haben soll.

Adel H., das soll eine erste Handyauswertung ergeben haben, verfügte über zahlreiche Kontakte zu anderen Flüchtlingen – einige davon kamen wie er in den Wochen zwischen September und Oktober nach Europa. Andere waren wohl schon vorher eingereist. Diesen Spuren gehen die Ermittler derzeit noch nach. Sie wollen wissen, ob es noch weitere Dschihadisten gibt, die vielleicht noch Attentate planen.

Kurz vor seiner Festnahme soll H. zwei Männer kontaktiert haben, die ebenfalls als Asylbewerber in Österreich lebten. Einem soll der Algerier sogar versucht haben, seine SIM-Karte zu übergeben. Nach mehrtägiger Observation griff die österreichischen Polizei auch hier zu. Nur rund eine Woche nachdem Adel H. und Mohamed Ghani U. verhaftet wurden, nahmen Polizisten ebenfalls in Salzburg einen 25-jährigen Marokkaner und einen 40-jährigen Algerier fest. Auch ihnen wird IS-Mitgliedschaft vorgeworfen. Sie befinden sich ebenfalls  in Untersuchungshaft.

Noch rätseln die Ermittler, ob die Terrorverdächtigen auch nach den Paris-Attentaten noch weiter auf tödlicher Mission unterwegs waren. Einerseits wirkten H. und U. in Salzburg recht orientierungslos. Als ob ihnen die genauen Instruktionen fehlten. Andererseits gibt es da noch die Interneteinträge auf dem sichergestellten Handy. Vor ihrer Festnahme interessierten sich die beiden wohl für Bahntickets – von Wien nach Paris.

„Will euch einladen, die Kuffar zu schlachten“

von Florian Flade

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Bundesinnenminister Thomas de Maizière fand klare Worte am vergangenen Donnerstag, als er das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin-Treptow besuchte. Er ließ sich dort von den Experten des Verfassungsschutzes, des Bundeskriminalamtes (BKA) und des Bundesnachrichtendienstes (BND) über radikale Islamisten informieren, die von Deutschland aus nach Syrien und in den Irak reisen. Und teilweise wieder zurückkehren.

„Wir müssen verhindern, dass diese radikalisierten Kämpfer ihren Dschihad erfolgreich in unsere Städte tragen“, sagte der Innenminister anschließend. Mehr als 450 Islamisten hätten Deutschland bereits verlassen, mit dem Ziel sich der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) anzuschließen. Tendenz steigend.

Wie real die Gefahr durch den islamistischen Terrorismus ist, verdeutlicht ein am Montag aufgetauchtes Propagandavideo der IS-Dschihadisten. Darin ruft ein offenbar aus Deutschland stammender deutschsprachiger Islamist seine Glaubensbrüder hierzulande auf, die „Ungläubigen zu schlachten“.

Das Video, das am Montag auf einschlägigen Internetseiten auftauchte, zeigt wohl die Vorbereitungen zum muslimischen Opferfest Eid ul-Adha in der nordsyrischen Stadt Ar-Raqqah, die als Hochburg des Islamischen Staates gilt. Im Video taucht auch ein dunkelblonder junger Mann auf, der in perfektem Deutsch in die Kamera spricht.

„Meine lieben Geschwister im Glauben, ich bin hier im Kalifat Islamischer Staat, in der Region Rakka“, sagt der Dschihad-Kämpfer, dessen Name nicht genannt wird. „Wir haben uns heute hier versammelt, um die Schafe zu schlachten. Und ich will euch dazu einladen die Kuffar (Ungläubigen) zu schlachten im Dar ul-Kufr (bezeichnet nicht-muslimische Länder).“

Zudem seien alle Muslime dazu aufgerufen, sich dem Islamischen Staat anzuschließen, erklärt der Dschihadist. „Kommt alle her! Ich lade euch dazu ein, hier her zu kommen und die Kuffar zu schlachten!“

Der Aufruf zum Mord an „Ungläubigen“ in deren Heimatländern ist eine neue Qualität in der Propaganda des Islamischen Staates. Eine, vor der Behörden und Experten seit Wochen warnen. Europäische Staaten, die sich dem Kampf gegen die Terroristen verschrieben haben, geraten nun ins Visier der selbst ernannten Gotteskrieger.

Auch die Bundesrepublik droht nun zum Terrorziel zu werden. Die Unterstützung der Bundesregierung für die kurdischen Milizen im Nordirak, insbesondere durch Waffenlieferungen, könnte IS-Terroristen und ihre Sympathisanten hierzulande zu Gewalttaten anstacheln.

„Deutschland steht nach wie vor im Fokus des dschihadistischen Terrorismus“, erklärte am vergangenen Wochenende ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Nachfrage. Betonte allerdings, dass es derzeit keine Hinweise auf eine konkrete Anschlagsgefahr gebe.

Schüler einer Berufsschule in Wien erkannten inzwischen den blonden Dschihadisten aus der Videobotschaft. Es soll sich um den 16-jährigen Oliver N. handeln, der zum Islam konvertiert war und sich offenbar in kürzester Zeit radikalisiert hatte.

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Dieser Artikel erschien am 07. Oktober 2014 in Die WELT:

http://www.welt.de/politik/deutschland/article132968809/Deutscher-Islamist-ruft-zur-Toetung-Unglaeubiger-auf.html

Al-Qaida plante Anschlagsserie in Europa

von Florian Flade

Das Al-Qaida-Netzwerk im pakistanischen Waziristan gilt als geschwächt. Dennoch planten die Terroristen im vergangenen Jahr einen Anschlag in Europa.

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Wäre Al-Qaida ein Unternehmen, dann müsste man sagen, dass über die Franchise-Ableger im Jemen, in Nordafrika, dem Irak oder Somalia weit mehr Details bekannt sind, als über den Mutter-Konzern in Pakistan. Oder wie es der norwegische Terrorismus-Experte Thomas Hegghammer formuliert: „Die Kern-Al-Qaida in Waziristan ist wahrscheinlich jener Teil des Terrornetzwerkes, über den wir am wenigsten wissen.“

Al-Qaida ist zwölf Jahre nach dem 11.September 2001 vorsichtig geworden. Längst verkündet das Netzwerk nicht mehr öffentlich jede neue Personalie. Die Führungskader erscheinen nicht mehr regelmäßig in Propagandavideos. Generell, so bestätigen westliche Geheimdienstler, betätigen sich – neben dem Emir Ayman al-Zawahiri und dem Amerikaner Adam Gadahn – nur noch Al-Qaida-Kommandeure an der Propaganda-Arbeit.

So ist es fast ausschließlich den Geheimdiensten vorbehalten, den Führungszirkel der Al-Qaida zu analysieren. Etliche ranghohe Kader sind der Öffentlichkeit kaum bis gar nicht bekannt, agieren nur noch aus dem Hintergrund heraus. Einer von ihnen war Abdullah al-Adam alias Abu Ubaidah al-Maqdisi.

Der in Saudi-Arabien aufgewachsene Palästinenser ist seit den 1990er Jahren in Kreisen der Al-Qaida aktiv. Nach eigener Aussage war er kurzfristig ein Weggefährte des späteren irakischen Al-Qaida-Chefs, Abu Mussab al-Zarqawi, bevor dieser in den Irak ging. Später soll Abu Ubaidah al-Maqdisi im pakistanischen Stammesgebiet Waziristan, in das er im Oktober 2001 vor der US-Invasion in Afghanistan geflohen war, unter den militärischen Kommandeuren Abu Zubaidah und Abu Hamza Rabia tätig gewesen sein.

In Geheimdienstkreisen heißt es, al-Maqdisi habe in den vergangenen Jahren eine wichtige Rolle innerhalb der Al-Qaida übernommen. Zunächst war er für die Kontakte zu den regionalen Gruppierungen in Waziristan zuständig, traf sich regelmäßig mit Taliban-Führern, verteilte große Summen Geld an Al-Qaida lokale Verbündete. Nachdem eine Vielzahl von Al-Qaida-Führungskadern den US-Drohnenangriffen zum Opfer fiel, rückte al-Maqdisi in der Hierarchie kontinuierlich höher.

Seit 2005 veröffentlichte der Islamist regelmäßig in dschihadistischen Online-Magazinen Artikel über getötete Terroristen, den Arabischen Frühling und die terroristischen Erfolge von Al-Qaida seit dem 11.September 2001. Im Jahr 2008 erschien ein Buch von al-Maqdisi mit dem Titel „Märtyrer in Zeiten der Demütigung“. Darin aufgelistet sind die Biografien von 120 Al-Qaida-Kämpfern die in Afghanistan und Pakistan getötet wurden.

In einer Serie von Audiobotschaften („Die Terrorismus-Industrie“) rief Abu Ubaidah al-Maqdisi vor drei Jahren islamistische Gruppen weltweit auf, vermehrt auf Geiselnahmen zu setzen. Die Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM) und auch die afghanischen Taliban hätten damit einige Erfolge verbuchen können und große Summen Lösegeld bekommen.

Dass Abu Ubaidah al-Maqdisi nicht bloß ein dschihadistischer Theoretiker ist, war westlichen Nachrichtendiensten seit einigen Jahren bekannt. Der Islamist war Mitglied des Shura-Kommitees, des Al-Qaida-Führungszirkels im pakistanischen Waziristan. Er soll vermehrt in die Planung von Terroranschlägen im Westen involviert gewesen sein. „Er war eine Art Geheimdienstchef der Al-Qaida“, sagte mir ein Analyst, der für einen westlichen Geheimdienst arbeitet. „Er hat Terroristen im Umgang mit Verschlüsselungstechnik geschult und ihnen beigebracht, wie man sicher über das Internet kommuniziert.“

Im vergangenen Jahr rekrutierte Abu Ubaidah al-Maqdisi nach meinen Informationen eine Gruppe tunesischer Islamisten, die nach Waziristan gereist waren und in einem Ausbildungslager der Al-Qaida trainiert wurden. Der Terrorplaner entsandte die vier Tunesier im Sommer 2012 für ein Anschlagsvorhaben nach Europa. Noch bevor die angehenden Attentäter Waziristan verlassen hatten, zeichneten sie ihre Märtyrer-Botschaften per Video auf.

Auf dem Weg nach West-Europa, wo die tunesische Terrorzelle offenbar eine Anschlagsserie verüben sollte, konnten westliche Geheimdienste das Vorhaben vereiteln. Die Männer wurden nach meinen Informationen im iranisch-türkischen Grenzgebiet festgenommen und anschließend in ihr Heimatland Tunesien abgeschoben. Dort setzten die Behörden die Terrorzelle zum Entsetzen westlicher Geheimdienstler wieder auf freien Fuß. Seitdem sind die vier tunesischen Al-Qaida-Terroristen verschwunden.

Der Anschlagsplaner Abu Ubaidah al-Maqdisi ist inzwischen tot. Er starb bei einem US-Drohnenangriff in Nord-Waziristan im April diesen Jahres. Dennoch verdeutlicht der Anschlagsplan, dass das totgesagte Netzwerk der Kern-Al-Qaida weiterhin willens ist, Terror im Weste zu verüben. Die Kader in Waziristan arbeiten, so warnen Geheimdienste, trotz des anhaltenden Drohnenkriegs der CIA an Anschlägen in Nordamerika und Europa.

„Wir wissen nicht genau wie viele kreative Terrorplaner noch in Waziristan rumlaufen“, sagte mir ein deutscher Geheimdienstler. „Generell lässt sich sagen, Al-Qaida ist eher nicht mehr in der Lage große Vorhaben auf die Gleise zu stellen. Aber es gibt immer wieder Überraschungen.“

Und es gibt weiterhin gefährliche Strategen in der Region. Etwa der in Saudi-Arabien und den USA aufgewachsene Islamist Adnan Shukrijumah. Der 38-jährige soll inzwischen in die Planungsebene der Al-Qaida aufgestiegen sein. Gemeinsam mit einem Mauretanier soll Shukrijumah für die Operationen des Terrornetzwerkes im Westen verantwortlich sein.