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Der Berner Club

Europas Inlandsnachrichtendienste haben vor mehr als 50 Jahren eine Allianz gegründet, über die bis heute kaum etwas öffentlich bekannt ist. Der Berner Club gilt als sehr verschwiegene Runde, um die sich Mythen und Legenden ranken. Was hat es mit dem Club der Spione auf sich?

Von Florian Flade

Ein Hauch von Nostalgie lag bei dem Treffen in Paris wohl in der Luft. Anfang April kamen in der französischen Hauptstadt die Leiterinnen und Leiter der europäischen Inlandsnachrichtendienste zusammen. Kurz zuvor hatte Wladimir Putin den Krieg gegen die Ukraine begonnen. Russlands Spionageaktivitäten standen daher weit oben auf der Agenda der Tagung. Die Dienste-Chefs diskutierten darüber, wie sich der Krieg nun wohl auf die Spitzeleien von Moskaus Spionen auswirken wird und wie man nun reagieren sollte. Ein Ergebnis der Gespräche war die Ausweisung von zahlreichen russischen Geheimdienstlern aus Europa.

Die Runde, die sich im Frühjahr in Frankreich traf, gibt es seit mehr als 50 Jahren. Sie ist ein Kind des Kalten Krieges, gegründet einst, um gegen die Sowjetunion und die Aktivitäten ihrer Geheimdienste effektiver vorgehen zu können. Bis heute ist kaum etwas über diesen Zusammenschluss der europäischen Nachrichtendienste bekannt. Und noch immer ranken sich zahlreiche Mythen und Legenden um das Format – den Berner Club oder Club de Berne (CdB).

Durch frei zugängliche Quellen ist tatsächlich wenig über die verschwiegene Runde in Erfahrung zu bringen. Es gibt kaum Erwähnungen in der Fachliteratur oder wissenschaftliche Arbeiten. Der Club unterliegt keiner parlamentarischen Kontrollen oder einer anderen Kontrollinstanz, Anfragen von deutschen Abgeordneten hat die Bundesregierung in der Vergangenheit mit Verweis auf den Schutz von Geheimnissen entweder nicht oder nur sehr knapp beantwortet. Nur wenige Historiker haben sich außerdem bislang wirklich tiefgreifend mit dem Berner Club beschäftigt.

Und so stammt vieles, was über das nachrichtendienstliche Austauschformat bekannt ist, hauptsächlich aus den Erzählungen jener Personen, die bei den Club-Treffen dabei waren oder in anderer beruflicher Funktion mit ihm zutun hatten. Oder aus wenigen internen Unterlagen, die ihren Weg aus dem geheimnisvollen Kreis heraus gefunden haben.

Die Anfänge des Berner Clubs gehen zurück in die 1960 Jahre. Damals sollen innerhalb der europäischen Geheimdienst-Community erste Überlegungen gereift sein, einen informellen Zusammenschluss, sozusagen eine Geheimdienst-Allianz in West- und Zentraleuropa, zu schaffen. Mit dem klaren Ziel die Aktivitäten des sowjetischen Gegners einzudämmen. Die Dienste wollten KGB, GRU, Stasi & Co. schlagkräftiger entgegentreten. Und zudem die kommunistische Umtriebe grundsätzlich effektiver bekämpfen.

Ein Hauptziel der Gründung des Berner Clubs soll es deshalb gewesen sein, nachrichtendienstliche Informationen und Hinweise auszutauschen, um die Spione des Ost-Blocks besser im Blick behalten zu können. Einen solchen Erkenntnisaustausch zwischen den Diensten erscheint aus heutiger Sicht trivial und naheliegend. Zum damaligen Zeitpunkt aber war eine derartige Zusammenarbeit kaum bekannt. Und wenn, dann gab es sie meist nur bilateral.

Der Berner Club sollte dies ändern. Zu den ersten Treffen soll es im Jahr 1965 gekommen sein, im Januar zuerst in Rom, dann im Dezember in Paris. Gründungsmitglieder sollen neun westeuropäische Dienste gewesen sein, darunter Vertreter aus Frankreich, Italien, den Niederlanden, Schweiz und Deutschland. Genaue historische Aufzeichnungen dazu sind bis heute nicht bekannt.

Im Laufe der Jahrzehnte ist der Club der Spione gewachsen, fast 30 Mitglieder hat die Runde heute. Und sie ist längst weitaus mehr als nur ein halbjähriges Treffen zum Plausch und Gedankenaustausch. Der Berner Club ist ein nachrichtendienstliches Bündnis, das über eigene Kommunikationssysteme und Austauschplattformen verfügt und sich mit allerlei unterschiedlichen Bedrohungen und Themen beschäftigt.

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Auf der Spur der Oligarchen-Gelder

In Europa suchen Ermittler nach dem Geld aus Putins Machtapparat. Auch in Deutschland ist eine Task Force auf der Suche nach dem Vermögen der Oligarchen. Sie stoßen auf Yachten, Immobilien und Aktien. Vor allem aber auf undurchsichtige Firmengeflechte und zahlreiche Schlupflöcher.

Von Florian Flade

Oft fühle man sich an Matrjoschkas erinnert, an die ineinander verschachtelten russischen Holzpuppen. So beschreiben es Finanzermittler, die nun seit Monaten in Deutschland nach Geld aus Putins Reich suchen. Es ist eine bildliche Beschreibung für undurchsichtige Firmengeflechte mit ständig wechselnden Geschäftsführern und Besitzverhältnissen, aus Strohleuten, Briefkastenfirmen, Offshore-Unternehmen. Ein wildes Dickicht, von steinreichen Kreml-Loyalisten über viele Jahre und sogar Jahrzehnte aufgebaut, um den wahren Reichtum zu verschleiern – und nicht von Behörden entdeckt zu werden.

Mittlerweile hat die Europäische Union sechs Sanktionspakete gegen Russland beschlossen, die ersten bereits nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim vor acht Jahren. Die umfangreichsten Sanktionen aber erfolgten in diesem Frühjahr. Als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine.

1,158 Personen und 98 staatliche Stellen, Banken und privatwirtschaftliche Unternehmen sind nun in der EU sanktioniert. Den gelisteten Personen ist die Reise in die Union untersagt, ebenso sind Geschäfte mit ihnen verboten. Die Sanktionen sollen insbesondere die mächtige Clique der Oligarchen treffen, jene oft milliardenschwere Geschäftsleute, die nicht selten langjährige Weggefährten des russischen Präsidenten sind.

Die ziemlich naive Hoffnung dabei ist, dass die Sanktionen den Druck auf diese Menschen erhöhen, dass sie ihren Reichtum und Reisefreiheit bedroht sehen, und deshalb womöglich ihrerseits den Druck auf Putin erhöhen – und damit den Krieg gegen die Ukraine beeinflussen. Nichts spricht aktuell dafür, dass dies tatsächlich geschieht. Die russischen Geldeliten verhalten sich bislang größtenteils loyal zum Kreml. Nur einige wenige haben sich ins Ausland abgesetzt und kritisieren Putin mittlerweile offen.

In Europa versucht man indes, das Vermögen von Putin und seinen Getreuen aufzuspüren. Die EU-Kommission hat im März dazu die Task Force „Freeze and Seize“ ins Leben gerufen, daneben gibt es zudem eine internationale Arbeitsgruppe, der die EU, die G7-Staaten und Australien angehören, die Task Force „Russian Elites, Proxies, and Oligarchs (REPO)“. Rund 13,8 Milliarden Euro konnten in der EU aufgrund der Russland-Sanktionen inzwischen eingefroren werden. Hinzu kommen zahlreiche Finanztransaktionen, die blockiert wurden.

Die Umsetzung der Maßnahmen aber gestaltet sich schwierig, da innerhalb der EU unterschiedliche Regelungen und Zuständigkeiten gelten, etwa dafür die Sicherstellung von Vermögen. Nicht alle Behörden, die nun mit der Suche nach dem Oligarchen-Geld befasst sind, haben Erfahrung mit derartig komplexen Ermittlungen. Zudem fehlt es mancherorts an entsprechenden Befugnissen, um effektiv Vermögen aufspüren und festsetzen zu können.

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Die Jagd nach Terroristen mit Tarnkappe

von Florian Flade

Der „Islamische Staat“ (IS) hat Terrorzellen nach Europa entsandt – getarnt als Flüchtlinge. Mindestens zwei Attentäter aber konnten aufgehalten werden, bevor sie morden konnten. Die Geschichte einer Jagd quer durch Europa.

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Adel H. und Mohamed Ghani U. – IS-Terrorverdächtige sitzen in Salzburg in Haft

Diese Geschichte könnte in einer Novembernacht mitten in Paris beginnen. Oder auf einer kleinen griechischen Insel im Oktober. Vielleicht aber auch irgendwann im Spätsommer vergangenen Jahres im Norden von Syrien. Doch eigentlich beginnt sie noch viel früher. An einem Sonntagabend, dem 21. September 2014.

Da tauchte im Internet eine Tonbandnachricht der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) auf. Der Mann, dessen Stimme darin zu hören ist, gilt bis heute als Phantom. Seine echte Identität ist nicht bekannt, es gibt kaum authentische Fotos von ihm. Und das, obwohl er eine wichtige Funktion inne hat. Abu Mohammed al-Adnani ist der offizielle Sprecher des IS. Sozusagen die Stimme des Terror-Kalifats.

Adnanis Botschaft an jenem Tag war eine Warnung. Mehr noch: Eine Kriegserklärung an die Europäer. „Wir werden euch in euren Heimatländern angreifen!“, prophezeite der IS-Sprecher. Die in Europa lebenden Muslime rief er auf, Anschläge zu begehen. Speziell gegen „die boshaften und dreckigen Franzosen“.

Der IS hat Europa im Visier – das war die unmissverständliche Botschaft. Aus Sicht der europäische Geheimdienste aber gab es damals noch keine Hinweise darauf, dass demnächst mit IS-Terror zu rechnen sein könnte. Die Organisation verfolge weiter eine „regionale Agenda“, hieß es. Es gehe vor allem um „Terroritorialgewinne“ vor Ort. Um eine Expansion des Kalifats in der Region.

Ein gefährlicher Trugschluss. In Wahrheit arbeiteten die Dschihadisten längst daran, den Terror nach Europa zu bringen. Eine internationale Koalition, angeführt von den USA, hatte im Herbst 2014 damit begonnen, den IS im Irak und Syrien zu bombardieren. Aus Sicht der Terroristen ein Angriff von außen – einer, auf den sie mit Vergeltung reagieren mussten.

Der IS soll dafür eigens eine Abteilung für „Externe Operationen“ gegründet haben, an der Spitze soll Abu Mohammed al-Adnani stehen. Die Einheit ging, so beschrieben es europäische IS-Dschihadisten nach ihrer Rückkehr in Verhören, aus dem internen IS-Geheimdienst „Amniyat“ hervor. Gezielt sollen Islamisten aus dem Westen für diese Elitetruppe rekrutiert worden sein. Extremisten, die sich in Europa auskennen, dort aufwuchsen, bei ihrer Rückkehr womöglich sogar Freunde und Helfer aktivieren können.

Der Mann, dem die Aufgabe übertragen worden sein soll, Anschläge in Europa zu planen, war ein Belgier. In Syrien nannte er sich „Abu Omar al-Belgiki“. Geboren wurde er am 08. April 1987 als Abdelhamid Abaaoud im Brüsseler Vorort Molenbeek. Der ehemalige Kleinkriminelle entwickelte sich zu einem äußerst kreativen und damit gefährlichem Kader in der Terrorgruppe. Jemand, der energisch und mit großer Geduld nach passenden Rekruten Ausschau hielt, sie teilweise sogar selbst schulte und anschließend nach Europa entsandte, um dort im Namen des IS zu morden.

Abaaoud soll Mehdi Nemmouche, den französische Syrien-Rückkehrer, der im Mai 2014 im Jüdischen Museum von Brüssel vier Menschen erschoss, gekannt haben. Außerdem steuerte er jene Terrorzelle, die im Januar 2015 im belgischen Verviers Anschläge vorbereitete und durch einen Polizeieinsatz wohl noch kurz vor Ausführung gestoppt werden konnte. Ebenso soll Abdelhamid Abaaoud den Franzosen Sid Ahmed Ghlam instruiert haben, in Paris eine Kirche an einem Sonntag, während eines Gottesdienstes, anzugreifen. Nur weil sich Ghlam auf dem Weg dorthin versehentlich mit einem Sturmgewehr ins Bein schoss, gab es kein Blutbad.

Abdelhamid Abaaoud nahm den Auftrag des IS offensichtlich sehr ernst. Er versuchte es immer wieder mit dem Terror in Europa. Die hiesigen Sicherheitsbehörden wussten das, es gab mehrfach Besprechungen zwischen den Nachrichtendiensten, zuletzt am Tag der Anschläge von Paris. Dabei ging es auch um die Frage, wie gefährlich der Belgier für Europa werden könnte. Und was dort in den Terrorcamps von Syrien noch so alles geplant wird.

Womit die Geheimdienste nicht rechneten, war, dass ein historischer Zufall Abaaoud in die Karten spielen würde. Im vergangenen Jahr spitzte sich eine der aktuell größten politischen Herausforderungen für den Kontinent maßgeblich zu: Die Flucht von hunderttausenden Menschen aus den Bürgerkriegen in die Europäische Union. Sie kamen aus Syrien, Irak, Afghanistan, aus Eritrea, Somalia, Nigeria, Pakistan und zahlreichen anderen Krisenherden der Welt. Geflüchtet vor Krieg, Terror, Hunger, Armut und Leid, mit der Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit, nahmen sie lebensgefährliche Überquerung des Mittelmeers in Kauf, reisten zu Fuß über Wochen die sogenannte Balkan-Route gen Norden.

Die Terrorstrategen des IS sahen ihre Chance gekommen. Ihr perfider Plan: Attentäter als Flüchtlinge getarnt nach Europa zu schicken. Die Grenzsicherung der EU war im Herbst vergangenen Jahres mit dem Zustrom der Flüchtlinge völlig überfordert. Es fehlte an Registrierungen, und denen die kamen, fehlte es oft an Ausweisdokumenten. Niemand wusste mehr, wer da genau einreiste. Ideale Umstände, um Terroristen über Grenzen hinweg, durch mehrere Staaten hindurch zu schleusen. Selbst jene Dschihadisten, die vielleicht bei den sonst üblichen Grenzkontrollen aufgefallen wären, gingen nun im Chaos und der Masse unter.

Es sei „unwahrscheinlich, dass Terroristen die waghalsige Bootsflucht über das Mittelmeer nutzen, um nach Europa zu gelangen“, sagte der scheidende BND-Präsident Gerhard Schindler damals. Bis heute heißt es, es gab keinerlei Belege für ein solches Vorgehen des IS. Ausgeschlossen, so betonen Geheimdienstler im Gespräch vehement, habe man diese Möglichkeit jedoch ausdrücklich nie.

Wie falsch die Hypothese der Terrorfahnder war, wurde jedoch erst an einem Freitag, dem 13. November 2015 klar. Gleich mehrere Terrorkommandos schossen und bombten sich in jener Nacht durch Paris. Sie ermordeten 130 Menschen und setzten damit das Versprechen des IS-Sprechers Abu Mohammed al-Adnani auf blutige Weise in die Tat um. Es war vollbracht: Der IS hatte in Europa zugeschlagen.

Noch während die Menschen in Frankreich und anderenorts in Schock und Trauer verharrten, begann für die Ermittler in Paris die eigentliche Arbeit. Wer waren die Mörder? Wie war es die Terroristen gelungen derartige multiple Anschläge durchzuführen? Und das nur zehn Monate nach dem verheerenden Attentat zweier Islamisten auf die Redaktion des Satire-Magazins Charlie Hebdo.

Einer der Selbstmordattentäter vom 13. November hatte sich während des Freundschaftsspiels Frankreich vs. Deutschland vor dem Fußballstadion Stade de France, am Eingangstor D, in die Luft gesprengt. Er hatte wohl noch versucht, in das Stadion zu gelangen, war aber von Sicherheitspersonal daran gehindert worden.

Die Polizei fand schließlich den zerfetzen Leichnam des Terroristen. Daneben stießen die Ermittler auf einen ersten, aber entscheidenden Hinweis, wie der IS das Massaker wohl vorbereitet hatte. Neben dem abgerissenen rechten Fuß des Selbstmordbombers lag ein syrischer Reisepass. Nahezu unversehrt wirkte es so, als hätte ihn der Terrorist noch absichtlich von sich geworfen, bevor er seinen Sprengsatz gezündet hatte.

„Ahmad Almohammad“, stand auf dem Pass, geboren am 10. September 1990 in Idlib, Syrien. Es war die erste heiße Spur auf der Jagd nach den Paris-Attentätern. Umgehend starteten die französischen Behörden eine Abfrage in den Datenbanken. Die Informationen zu „Ahmad Almohammad“ wurden den europäischen Sicherheitsbehörden mitgeteilt. Schon nach wenigen Stunden gab es eine positive Rückmeldung. Aus Griechenland.

Ein Mann mit genau jenem syrischen Pass war nur knapp sechs Wochen zuvor auf der Insel Leros von griechischen Grenzbeamten als Flüchtling registriert worden. Es gab ein Foto des angeblichen Syrers. Und Fingerabdrücke. Sie stimmten mit dem Attentäter vom Stade de France überein. Aber damit nicht genug. Auch ein zweiter Terrorist, der sich vor dem Fußballstadion in die Luft gesprengt hatte, gab sich bei seiner Einreise in Griechenland als syrischer Flüchtling aus. Sein Name: „Mohammad Almahmod“, geboren am 01. Januar 1987.

Blitzschnell verbreitete sich am Folgetag nach den Paris-Anschlägen die Meldung: Pässe gefunden, auch syrische Flüchtlinge gehörten wohl zu den Attentätern. In Wahrheit war dies aber nur die Tarnung, mit der die Männer nach Europa gekommen waren. Die Angaben auf ihren Pässen waren falsch – die Ausweise an sich aber keine Fälschungen im eigentlichen Sinne. Und genau das elektrisierte die Ermittler.

„Ahmad Almohammad“ und „Mohammad Almahmod“ verfügten über authentische syrische Reisepässe. Sie trugen die Passnummern 0079814047 und 007773937. Für letzteren Pass gab es im Schengener Informationssystem (SIS) eine sogenannte „Sachfahndung“, nach diesem Pass wurde also bereits vor den Anschlägen von Paris gesucht.

Die Terrororganisation IS hatte bei ihrem Feldzug zahlreiche Städte und Ortschaften in Syrien unter ihre Kontrolle gebracht, darunter Raqqa und Deir ez-Zour. Den Dschihadisten fielen dabei nicht nur Militärkasernen, Waffenlager oder Gefängnisse in die Hände. Sondern auch Verwaltungsgebäude, und somit auch jene Stellen, in denen Ausweisdokumente ausgestellt wurden. Kurzum: Der IS hatte vermutlich tausende von Blanko-Pässen sowie Anlagen zur Pass-Herstellung erbeutet. Die Terroristen waren damit in der Lage, authentische syrische Reisepässe anzufertigen – auf jede erdenkliche Identität und mit beliebigen Angaben.

Der Umstand, dass der IS in den Besitz von syrischen Pässen gelangt war, war den europäischen Sicherheitsbehörden bekannt. Es war eines ihrer Horrorszenarien. Wie aber könnte verhindert werden, dass der IS diese „echten falschen“ Ausweise benutzt, um Kämpfer nach Europa zu schleusen?

Entscheidende Hilfe kam von einer eher unerwarteten Seite. Das syrische Regime übermittelte den Europäern schon im Sommer 2014 mehrere Listen mit Passnummern jener 3800 Blanko-Dokumente, die mutmaßlich vom IS gestohlen worden waren. In Raqqa waren wohl 1452 Pässe mit den Nummern 007773549 bis 007775000 abhanden gekommen. In Deir ez-Zour sogar 2348 Pässe mit den Nummern 006875653 bis 006876000, 006910001 bis 006911000 und 006951001 bis 006952000.

Die griechischen Behörden schrieben die Dokumente am 24. Juni 2014 im SIS-System zur Fahndung aus. Und auch die deutsche Bundespolizei pflegte die Passnummern in ihre Datenbanken ein. In einem internen Warnschreiben hieß es zudem, beim Antreffen einer Person mit einem dieser Pässe, sei große Vorsicht geboten – „Eigensicherung beachten!“ – außerdem sei unverzüglich die jeweilige Staatsschutzabteilung zu informieren.

Zwei der Paris-Terroristen waren also mit Pässen aus Syrien eingereist, die der IS vermutlich selbst produziert hatte. Und die eigentlich im Schengenraum zur Fahndung ausgeschrieben waren. Wieso aber kamen die späteren Selbstmordattentäter ungehindert nach Europa? Und wenn sie auf diese Weise hinein gelangten, gab es dann noch weitere Terroristen, die mit der Tarnung als Flüchtling gekommen waren?

Umgehend wurden die Ermittlungen auf jenes Boot ausgeweitet, mit denen die beiden Dschihadisten von der Türkei nach Griechenland gekommen waren. Im Herbst vergangenen Jahres, zur Hochzeit der Flüchtlingskrise, kamen zeitweise tausende Menschen täglich auf den griechischen Inseln an. Eine ihrer Anlaufstellen war Leros, knapp 100 Kilometer von der türkischen Küste entfernt.

In den frühen Morgenstunden des 03. Oktober 2015 kamen mehrere Boote mit insgesamt 198 Menschen nach Leros. Die meisten Passagiere gaben an, aus dem syrischen Bürgerkrieg geflohen zu sein. Ihre Daten wurden notiert, Fingerabdrücke genommen, zusätzlich wurden Fotos gemacht. Auf Leros sollen die griechischen Beamten zwar Zugang zum EURODAC-System, nicht aber zum SIS gehabt haben, heißt es. Das wäre eine Erklärung, weshalb die eigentlich zur Fahndung ausgeschriebenen Pässe aus Raqqa zunächst nicht auffielen.

So konnten „Ahmad Almohammad“ und „Mohammad Almahmod“ nach ihrer Registrierung ungehindert weiterreisen, beantragten an verschiedenen Stellen auf der Balkan-Route Asyl und landeten letztendlich in Frankreich.

Griechische Behörden übermittelten den europäischen Partnern die gesamte Liste der am 03. Oktober 2015 auf Leros registrierten Flüchtlinge. Es handelt sich dabei um die Registrierungsbögen von 142 Menschen, all jener, die älter als 16 Jahre waren.

In Berlin-Treptow befindet sich eine Liegenschaft des Bundeskriminalamtes (BKA). Hier residiert die Gruppe Staatsschutz 4, zuständig für Islamistischen Terrorismus. Gemeinsam mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das auf demselben Gelände untergebracht ist, sah man sich in den Tagen nach den Paris-Attentaten die Flüchtlinge von Leros sehr genau an. Die These: Es kamen vermutlich noch weitere Terroristen an jenem Oktobermorgen nach Griechenland.

„Wir gingen davon aus, dass sich diese Personen als Asylbewerber getarnt vielleicht schon in Deutschland aufhalten“, berichtet ein Ermittler. Immerhin sei die Mehrzahl der Flüchtlinge im vergangenen Jahr in die Bundesrepublik gereist. So vermutlich auch weitere getarnten IS-Terroristen.

Also wurde versucht sämtliche Flüchtlinge aus Leros aufgrund ihrer Daten zu lokalisieren. Einige waren inzwischen in Schweden aufgetaucht, viele in Deutschland, andere in Slowenien. Doch gab es IS-Schläfer darunter?

Die BKA-Beamten legten die Listen der gestohlenen syrischen Blanko-Pässe neben die Registrierungsbögen aus Leros. Es gab zwei Treffer. Zwei weitere Männer hatten bei ihrer Ankunft in Griechenland Pässe vorlegt, die aus den IS-Beständen stammten. Auch sie gaben sich als Syrer aus – „Khaled Alomar“, geboren am 01. Januar 1980 in Aleppo. Und „Faysal Alaifan“, geboren am 05. Januar 1981.

Wo waren die beiden jetzt?

Beim BKA wurde eine Besondere Aufbauorganisation, die BAO „Echo“, ins Leben gerufen. Sie sollte ermitteln, wo sich die Terrorverdächtigen aufhalten. Einen ersten Hinweis lieferten die griechischen Behörden. Sie konnten rekonstruieren, dass die Männer von Frontex-Beamten bei ihrer Ankunft in Leros befragt worden waren. Dabei kamen erste Zweifel auf, ob es sich tatsächlich um Syrer handelte. „Faysal Alaifan“ sprach kaum Arabisch. „Khaled Alomar“ wiederum konnte keinerlei Fragen zu seinem angeblichen Heimatort Aleppo beantworten.

Es folgte eine Festnahme der Männer – jedoch nicht wegen Terrorverdacht. Sondern aufgrund eines Passdelikts. Sie kamen drei Wochen auf der Insel Kos in Haft und erhielten anschließend die Auflage, Griechenland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Am 27. Oktober 2015 kamen beide frei und konnten am Folgetag ungehindert weiterreisen.

Als die Terrorkommandos unter Anleitung von Abdelhamid Abaaoud in Paris einen der schwersten Terroranschläge in der jüngeren europäischen Geschichte verübten, befanden sich die beiden Männer vom Flüchtlingsboot noch auf Reisen. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien kamen sie Anfang Dezember über den Grenzübergang Spielfeld nach Österreich. Sie gaben sich erneut als Flüchtlinge aus – diesmal allerdings aus Nordafrika stammend, mit den Namen „Nasser Said Moqaiss“ und „Mohamad al-Fatori“.

In diesen Tagen gab es bereits die ersten Fahndungen nach ihnen. Sowohl Behörden in Deutschland, als auch in Frankreich und Österreich gaben die Informationen zu den beiden Gesuchten im Schengener Informationssystem (SIS) ein. Da die echten Identitäten aber nicht klar waren, befanden sich dort lediglich die Alias-Namen, die sie bislang verwendet hatten sowie die Fotos, die von ihnen auf Leros und später in der Haft gemacht worden waren.

Interessant außerdem: Die mutmaßlichen IS-Terroristen waren nicht zur Festnahme ausgeschrieben, sondern lediglich zur „verdeckten Kontrolle“ (Österreich), „gezielten Kontrolle“ (Frankreich) oder zur „Polizeilichen Beobachtung“ (Deutschland). Der Grund dafür waren die mangelnden Belege für einen Terrorbezug. „Wir haben mit den Fahndungseinträgen ein Netz gelegt. Und wir wollten wissen, wo sie sich aufhalten“, sagt ein eingeweihter Ermittler. „Aber wir hatten nicht genug, um sie zu verhaften.“

Es soll das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gewesen sein, das letztendlich den entscheidenden Hinweis auf die Männer an die österreichischen Behörden übermittelte. So konnten sie in einer Flüchtlingsunterkunft in Salzburg ausfindig gemacht werden. Am Abend des 10. Dezember 2015 stürmte die Eliteeinheit „Cobra“ das Asylbewerberheim in der Münchner Straße und nahm beide Personen unter Terrorverdacht fest.

Mehr als 100 Stunden wurden die beiden Männer seitdem befragt, teilweise in Anwesenheit von französischen Geheimdienst-Mitarbeitern, die eigens eingeflogen kamen. Im Verhör gaben sie nicht nur ihre echten Identitäten preis – Adel H., 29, aus Algerien, und Mohamed Ghani U., 34, aus Pakistan – sondern bestätigten auch, dass sie tatsächlich für die Terroranschläge von Paris rekrutiert worden waren.

In Syrien habe der IS sie ausgewählt für eine „Mission“ nach Frankreich zu reisen. Im September habe es ein entsprechendes Auswahlgespräch mit einem IS-Kommandeur namens „Abu Ahmad“ in Raqqa gegeben. Dann seien Passfotos für die gefälschten Ausweise gemacht worden. Dann seien sie gemeinsam mit den gebürtigen Irakern, die sich später am Stade de France in die Luft gejagt hatten, zu Fuß in die Türkei gebracht worden. Ein Schleuser fuhr sie angeblich anschließend mit dem Auto bis nach Izmir, wo das Quartett eine Nacht in einem Hotel verbrachte.

Für rund 100 Euro hätten sie anschließend Schwimmwesten und wasserdichte Beutel für die Reisepässe gekauft. Der Schleuser, der die Dschihadisten nach Griechenland bringen sollte, verlangte angeblich knapp 1000 Euro für seine Dienste. In einem Gestrüpp nahe der Küste hätten beide auf die Überfahrt gewartet, berichteten H. und U. in den Vernehmungen. Es sei geplant gewesen, dass zwei Boote mit Flüchtlingen in den frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang nach Leros übersetzen sollten. Eine Gruppe sei jedoch von der türkischen Polizei festgenommen worden. Um 4 Uhr morgens begann die gefährliche Bootsfahrt für die vier Terroristen und dauerte eineinhalb Stunden. Dann griff die griechische Marine das Boot mit den rund 50 Flüchtlingen auf und brachte sie nach Leros.

Die österreichischen Ermittler konfiszierten bei der Festnahme auch die Mobiltelefone von H. und U.. So konnte rekonstruiert werden, dass die beiden wohl mehrfach über WhatsApp-Chat in Kontakt standen mit einem Verbindungsmann in Syrien. Einmal forderten sie Geld für die Weiterreise, und erhielten prompt 2000 Euro per Western Union. Einmal wollten sie wissen, was denn nun ihr Bestimmungsort sein sollte.

Zudem stießen die Ermittler auf einem der Handys auf eine türkische Telefonnummer, die auch auf einem zerknüllten Zettel befand, den einer der Selbstmordattentäter vom Stade de France in seiner Hosentasche bei sich getragen hatte. Die Nummer wird einem IS-Terroristen zugerechnet, der womöglich für die Logistik der Reisen zuständig war. Sie war bereits in einer Wohnung in Athen gefunden worden, aus der heraus Abdelhamid Abaaoud die Terroristen von Verviers instruiert haben soll.

Adel H., das soll eine erste Handyauswertung ergeben haben, verfügte über zahlreiche Kontakte zu anderen Flüchtlingen – einige davon kamen wie er in den Wochen zwischen September und Oktober nach Europa. Andere waren wohl schon vorher eingereist. Diesen Spuren gehen die Ermittler derzeit noch nach. Sie wollen wissen, ob es noch weitere Dschihadisten gibt, die vielleicht noch Attentate planen.

Kurz vor seiner Festnahme soll H. zwei Männer kontaktiert haben, die ebenfalls als Asylbewerber in Österreich lebten. Einem soll der Algerier sogar versucht haben, seine SIM-Karte zu übergeben. Nach mehrtägiger Observation griff die österreichischen Polizei auch hier zu. Nur rund eine Woche nachdem Adel H. und Mohamed Ghani U. verhaftet wurden, nahmen Polizisten ebenfalls in Salzburg einen 25-jährigen Marokkaner und einen 40-jährigen Algerier fest. Auch ihnen wird IS-Mitgliedschaft vorgeworfen. Sie befinden sich ebenfalls  in Untersuchungshaft.

Noch rätseln die Ermittler, ob die Terrorverdächtigen auch nach den Paris-Attentaten noch weiter auf tödlicher Mission unterwegs waren. Einerseits wirkten H. und U. in Salzburg recht orientierungslos. Als ob ihnen die genauen Instruktionen fehlten. Andererseits gibt es da noch die Interneteinträge auf dem sichergestellten Handy. Vor ihrer Festnahme interessierten sich die beiden wohl für Bahntickets – von Wien nach Paris.