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Der Terroralarm von Essen

von Florian Flade

Die Idee der Clique war banal und funktionierte erstaunlich gut: Versicherungsbetrug durch absichtlich herbeigeführte Autounfälle. Zwischen Mai 2011 und Oktober 2013 soll die Bande in Hannover, Mülheim, Essen, Oberhausen, Duisburg und Dinslaken insgesamt 17 Unfälle verursacht haben. In 13 Fällen zahlte die Versicherung jeweils Summen zwischen 2007,40 Euro und 8496,79 Euro.

Im Visier der Staatsanwaltschaft stehen wegen des systematischen Versicherungsbetrugs 24 Männer und Frauen aus Nordrhein-Westfalen. Sie sollen ingesamt rund 60.000 Euro unrechtmäßig kassiert haben. Das besondere: Neun Beschuldigte gelten als Salafisten. Mindestens zwei von ihnen sollen sich der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien angeschlossen haben – und sind inzwischen wohl tot. Der Verdacht der Ermittler: Ein Teil des ergaunerten Geldes landete womöglich beim IS oder wurde benutzt, um die Reisen von angehenden Dschihadisten zu finanzieren.

Zum Umfeld der islamistischen Versicherungsbetrüger gehört auch der 24-jährige Imran René Q. aus Oberhausen. Der Sohn eines Pakistaners und einer Deutschen war im Frühjahr 2015 über die Türkei nach Syrien gereist. Und schloss sich vor Ort dem IS an. Noch im Juli 2015 stufte das LKA in Nordrhein-Westfalen Q. als „Gefährder“ ein. Sein Bruder, gegen den wegen Terrorfinanzierung ermittelt wird, gilt als „relevante Person“ der salafistischen Szene.

Vor einer Woche sorgte Imran René Q. plötzlich für Alarmstimmung in seiner alten Heimat. Über Facebook-Chat behauptete der IS-Dschihadist, es werde bald einen Anschlag in einem Einkaufszentrum in Essen geben. Ausgeführt von Selbstmordattentätern. Der Verfassungsschutz bekam von den Internet-Chats mit. Die Folge: Das Einkaufszentrum „Limbecker Platz“ blieb am vergangenen Samstag aus Sicherheitsgründen geschlossen.

Was es mit dem Essener Terroralarm auf sich hat und wieso deutsche Sicherheitsbehörden derzeit eine Flut von Warnhinweisen vor Anschlägen erreicht:

Artikel in der WELT vom 14. März 2017

Zahlen, Fakten & Gedanken zum „Gefährder“

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Das Wort klingt nach Gefahr. Aber mit dem Begriff können offenbar viele nicht wirklich etwas anfangen: „Gefährder“. Anis Amri, der mutmaßliche Attentäter vom Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz, war zeitweise als ein solcher islamistischer „Gefährder“ eingestuft worden. Seit seinem Anschlag mit 12 Toten am vergangenen Montagabend ist der Begriff wieder allgegenwärtig – und mit ihm auch zahlreiche Missverständnisse.

Nachfolgend einige Zahlen und Fakten zum „Gefährder“:

  • Der Begriff ist keine juristische Bezeichnung, sondern ein Arbeitsbegriff der Polizei. Eingeführt hat ihn die Arbeitsgruppe „Kripo“ im Jahr 2004
  • Laut Definition ist „ein Gefährder ist eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen wird“
  • Deutsche Sicherheitsbehörden bezeichnen demnach „Gefährder“ als Personen aus den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, Islamismus und Linksextremismus, denen jederzeit ein Anschlag zugetraut wird
  • In der „Datenbank Islamismus“ (DABIS) des Bundeskriminalamts (BKA) sind aktuell 549 Islamisten als „Gefährder“ eingestuft, darunter 75 Konvertiten
  • Es befinden sich längst nicht alle „Gefährder“ in Deutschland: Rund die Hälfte der Personen soll sich derzeit im Ausland aufhalten, vor allem in Syrien und dem Irak. Einige gelten als tot. Viele in Deutschland aufhältige „Gefährder“ sind im Gefängnis. Nur etwa 195 Personen sind tatsächlich auf freiem Fuß
  • Die Einstufung als „Gefährder“ erfolgt aufgrund von Hinweisen, die aus unterschiedlichen Quellen stammen können. Etwa aus Internet-  oder Telekommunikationsüberwachung, Hinweise eines ausländischen Geheimdienstes oder der Meldung einer V-Person
  • Islamisten, die als „Gefährder“ eingestuft sind, stehen besonders im Fokus der Sicherheitsbehörden. Ihr Aufenthaltsort wird regelmäßig überwacht, einige werden mit Kamera, Peilsendern oder auch Observationsteams überwacht. Wobei letztere Maßnahme einen enormen personellen, zeitlichen und finanziellen Aufwand bedeutet
  • Nicht gegen jeden „Gefährder“ laufen auch Ermittlungsverfahren gemäß § 129 a/b oder § 89 Strafgesetzbuch. Als „Gefährder“ gelten demnach nicht nur Straftäter, sondern eben auch potentielle Straftäter
  • Eine Person kann auch wieder als „Gefährder“ ausgestuft werden, wenn die zuständigen Sachbearbeiter keinerlei Hinweise auf eine extreme Gefährlichkeit sehen
  • Die überwiegende Mehrzahl der islamistischen „Gefährder“ werden durch Staatsschutz-Abteilungen der örtlichen Polizei, meist der Landeskriminalämter, bearbeitet, nicht für jeden „Gefährder“ sind automatisch Bundesbehörden wie das BKA zuständig
  • Bislang gab es in Deutschland – bis auf den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin – noch kein Attentat eines islamistischen „Gefährders“ (!). Weder der Todesschütze vom Frankfurter Flughafen, Arid U., noch die Terroristen der Sauerland-Gruppe, die Düsseldorfer Al-Qaida-Zelle oder die Dschihadisten-Zelle aus Bonn, waren vor ihren Anschlägen oder Anschlagsversuchen als „Gefährder“ eingestuft

Kurzum: Ein islamistischer „Gefährder“ ist ein Islamist, von dem Behörden annehmen, dass er jederzeit zu einem Anschlag bereit wäre. Die Person wird daher von Polizei und Verfassungsschutz besonders intensiv bearbeitet. Es heißt aber nicht, dass die Person aufgrund ihrer extremistischen Einstellung auch irgendwann vor Gericht landen wird, denn viele „Gefährder“ begehen tatsächlich keinerlei Straftaten. Sie werden präventiv überwacht, um Attentate zu verhindern. Dabei werden die Personen abgehört, teilweise heimlich verfolgt und regelmäßig kontrolliert.  Es bedeutet nicht, dass diese Menschen rund um die Uhr beobachtet werden – das geschieht nur in den seltensten Fällen. Und selbst dann nur für einen begrenzten Zeitraum. 

Frankreich und die dschihadistische Hydra

von Florian Flade

In Frankreich wollten vier Islamistinnen offenbar einen Anschlag für die Terrormiliz IS verüben. Der Vorfall verdeutlicht wie hoch die Terrorgefahr im Land weiterhin ist – und vermutlich noch Jahre bleiben wird.

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Quelle: Google Maps

Patrick Calvar, Direktor des französischen Inlandsnachrichtendienstes DGSI, hatte eine Vorahnung, was da noch so kommen würde. „Ich bin sicher, dass sie Autobomben und Sprengsätze einsetzen werden“, sagte Calvar im Mai bei einer Befragung im Unterhaus des französischen Parlaments zum Anti-Terror-Kampf. Der dschihadistische Terrorismus, so prophezeite Frankreichs ranghöchster Geheimdienstler, werde die Nation wohl noch in den kommenden Jahren beschäftigen.

Am vergangenen Donnerstag wäre Calvars Vorhersage beinahe Realität geworden. Einige hundert Meter von der Kathedrale Notre-Dame in Paris entfernt, wurden Passanten auf ein Auto aufmerksam, das ohne Kennzeichen in der Nähe von Bars und Cafés abgestellt worden war. Polizisten rückten an und untersuchten den Wagen. Im Kofferraum und auf den Rücksitzen des Peugeot 607 entdeckten sie sechs Gasflaschen und drei mit Diesel gefüllte Kanister. Darüber lag eine mit Benzin getränkte Decke. Mit einer angerauchte Zigarette sollte die explosive Ladung wohl gezündet werden – was glücklicherweise misslang.

Schon kurze Zeit später erfolgten die ersten Festnahmen. In Boussy-Saint-Antoine, rund 40 Autominuten südöstlich von Paris, nahmen Polizeieinheiten insgesamt vier Frauen und eine Jugendliche fest. Es soll sich um radikale Islamistinnen handeln, die mit der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sympathisiert haben sollen. Bei den Verdächtigen handelt es sich um:

Sarah H., 23 Jahre
Ornella G., 29 Jahre – ihre Fingerabdrücke waren in der Autobombe gefunden worden
Inès M., 19 Jahre – die Tochter des Fahrzeughalters
Amel S., 39 Jahre – sie wurde gemeinsam mit ihrer 15-jährigen Tochter festgenommen

Als die Polizei bei den Wohnungen der Terrorverdächtigen anrückte, griffen Inès M. und Sarah H. die Beamten mit Küchenmessern an. Ein Polizist erlitt dabei Verletzungen am Bauch. Inès M. wurde anschließend durch Schüsse eines anderen Polizisten an der Hüfte und am Knöchel verletzt. In ihrer Handtasche entdeckten die Beamten einen Brief, in dem sie der Terrormiliz IS die Treue schwören soll. „Ich greife euch auf eurem Boden an (…) um euch zu terrorisieren“, soll sie geschrieben haben.

Frankreichs oberster Staatsanwalt, Francois Molins, erklärte bei einer Pressekonferenz die islamistische Terrorzelle habe im Auftrag des IS gehandelt und einen Autobombenanschlag verüben wollen. Der IS benutze „Frauen als Kombattantinnen“, so Molins. Und weise diese aus der Ferne an Attentate zu begehen.

Molins gab außerdem noch weitere Details zu den Islamistinnen bekannt, die verdeutlichen, dass es offenbar weitverzweigte Kennverhältnisse und Verflechtungen in die dschihadistische Szene gibt. Inès M. und Sarah H. beispielsweise waren den französischen Behörden als gewaltbereite Extremistinnen bekannt. Über die Frauen wurde eine sogenannte „Fiche S“ geführt, eine Akte für Personen, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen.

Sarah H. war eine Verlobte von Larossi Abballa, jenem Attentäter der im Juni in Magnanville bei Paris einem Polizisten vor dessen Haus auflauerte, zuerst ihn und dann seine Lebensgefährtin mit einem Messer tötete bevor ihn die Polizei erschoss. Abballa hatte kurz nach der Bluttat per Livestream über Facebook erklärt im Namen es IS gehandelt zu haben.

Nach dem Tod Abballas soll Sarah H. einem weiteren islamistischen Gewalttäter die Ehe versprochen haben: Adel Kermiche, der im Juli in der nordfranzösischen Kleinstadt Saint-Étienne-du-Rouvray während eines Gottesdienstes mit einem Komplizen in eine Kirche eindrang und dort einem 85 Jahre alten Priester die Kehle durchschnitt. Anrückende Polizeeinheiten erschossen die beiden Terroristen anschließend, die per Videobotschaft dem IS den Treueeid geschworen hatten.

Der aktuelle Verlobte von Sarah H., der 22-jährige Salafist Mohamed Lamine A., der ebenfalls am Donnerstag festgenommen wurde, gilt auch als radikaler Islamist, der bereits in Anti-Terror-Ermittlungen eine Rolle spielte.

Und noch eine Verbindung führt ins terroristische Milieu: Mindestens eine der festgenommen Frauen kannte nach Informationen der französischen Geheimdienste Hayat Boummedienne, die Witwe des Terroristen Amedy Coulibaly, der im Januar 2015 kurz nach dem Anschlag auf die Redaktion des Satire-Magazines Charlie Hebdo, einen jüdischen Supermarkt in Paris angriff und mehrere Menschen ermordete. Boummedienne soll sich in Syrien aufhalten und sich dort dem IS angeschlossen haben.

Tatsächlich verfolgen die Ermittler derzeit auch eine Spur nach Syrien. Von dort, so heißt es, soll die weibliche Terrorzelle „ferngesteuert“ worden sein. Als möglicher Kontaktmann gilt Rachid Kassim, ein 29-jähriger Dschihadist aus dem südfranzösischen Roanne. Kassim war bereits in IS-Propagandavideos zu sehen, unter anderem auch bei einer Enthauptung. Über seinen Telegram-Kanal soll Kassim seit Monaten mit IS-Sympathisanten in Frankreich in Verbindung stehen und auch direkt zu Anschlägen auf Zivilisten aufrufen – auch mit Autobomben.

„Füllt Autos mit Gasfalschen, gießt Benzin drüber, parkt das Auto in einer belebten Gegend und…BOOM“ – Aufruf von Rachid Kassim über Telegram

Französische Ermittler gehen davon aus, dass auch der Magnanville-Attentäter Larossi Abballa und die Priester-Mörder Adel Kermiche und Abdel Malik Petijean mit Rachid Kassim kommunizierten. Möglicherweise verschickten sie sogar an ihn die Bekennervideos, die später von der IS-Propagandaagentur Amaq Agency veröffentlicht wurden.

Auch bei einer weiteren Festnahme am Samstag soll es eine Verbindung zu IS-Rekrutierer Rachid Kassim geben. Ein 15-jähriger Schüler wurde in Paris verhaftet, weil er einen Anschlag geplant haben soll. Reuters berichtet, der Junge habe in Kontakt zu Kassim gestanden.

In Frankreich machen sich Sicherheitsbehörden, Justiz und Politik derweil wenig Illusionen: Die islamistische Terrorgefahr bleibt auch rund ein Jahr nach den Anschlägen von Paris vom 13. November 2015 mit 130 Toten hoch. „Eine Gruppe wurde neutralisiert“, sagte Staatspräsident Francois Hollande am Freitag nach der Festnahme der IS-Terrorzelle um Sarah H. und Inès M.. „Andere sind noch da draußen.“

Wie groß das terroristische Potenzial in Frankreich tatsächlich ist, vermag wohl niemand seriös zu beziffern. Angesichts der hohen Zahl von radikalen Islamisten gelten weitere Attentate in den kommenden Jahren allerdings als wahrscheinlich: Rund 12.000 Personen sollen inzwischen mit einer „Fiche S“ eingestuft worden sein, gelten also als gefährlich und gewaltbereit. 2165 Islamisten sind mit Bezug zum Konflikt in Syrien und im Irak bekannt, davon sollen sich 689 noch in der Region aufhalten, 203 Rückkehrer wurden gezählt, 193 Extremisten gelten als tot, 180 sind noch auf der Reise in das Kriegsgebiet oder bereits auf dem Heimweg und 900 Ausreisen wurden bislang verhindert.