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Alles geheim, oder was?

Westliche Geheimdienste gehen erstaunlich offen mit Erkenntnissen zum Ukraine-Krieg um. In den Sicherheitsbehörden ist eine Diskussion darüber im Gange, was geheim bleiben soll, und was öffentlich werden darf. Über die neue Offenheit der Spione.

Von Florian Flade

Eigentlich sollte das, was da in der vergangenen Woche hinter verschlossenen Türen besprochen wurde, den Raum 2700 des Deutschen Bundestages nicht verlassen. Denn der Tagesordnungspunkt 13 der Sitzung des Verteidigungsausschusses wurde als „geheim“ eingestuft. Das bedeutet, die Abgeordneten dürfen nicht darüber reden, was sie zu hören bekommen, und es wird auch kein Protokoll geführt. Zwei Tage hielt die Verschwiegenheit diesmal, dann war im Spiegel nachzulesen, was der Ausschuss erfahren hatte.

Der Bundesnachrichtendienst (BND) hatte den Parlamentariern von abgehörten Funksprüchen aus der Ukraine berichtet. Ein Vertreter des Dienstes las sogar Mitschriften der übersetzen Kommunikation vor. Es sollen Indizien für Kriegsverbrechen sein, wie sie zuletzt im Kiewer Vorort Bucha begangen worden waren. Russische Soldaten unterhielten sich demnach über die Tötung von ukrainischen Zivilisten. Darüber, wie sie eine Person vom Fahrrad geschossen hätte, und dass gefangene ukrainische Soldaten zunächst befragt und dann erschossen würden.

Es kommt nicht oft vor, dass solche Erkenntnisse von Geheimdiensten an die Öffentlichkeit kommen. Wer den BND dazu anfragt, bekommt als Antwort meist eine Standardformulierung: „Wir möchten jedoch darauf hinweisen, dass sich der Bundesnachrichtendienst zu operativen Aspekten seiner Arbeit und etwaigen Erkenntnissen grundsätzlich nur gegenüber der Bundesregierung und den zuständigen geheim tagenden Gremien des Deutschen Bundestages äußert.“

Doch etwas ändert sich derzeit in der Geheimdienst-Community. Der Ukraine-Krieg sorgt dafür, dass die sonst so verschwiegenen Dienste stellenweise erstaunlich offen mit ihren Informationen umgehen. Im Vorfeld des russischen Einmarsches wurden insbesondere die Einschätzungen und Prognosen von US-amerikanischen und britischen Geheimdiensten vielfach bewusst öffentlich gemacht – so umfangreich und detailliert wie selten zuvor. Nicht ohne taktische Überlegungen und Abwägungen. So manche erfahrenen Sicherheitsbeamten aber sehen Anzeichen für einen „nachrichtendienstlichen Kulturwandel“.

Die US-Dienste lagen bei den Vorhersagen eines russischen Angriffs auf die Ukraine durchaus richtig, sogar den genauen Zeitpunkt eines Einmarsches sagten sie ziemlich präzise voraus. Sie warnten vor Sabotage-Akten russischer Kräfte und vor Angriffen „unter falscher Flagge“, die möglicherweise einen Krieg provozieren sollten. Das britische Verteidigungsministerium wiederum twittert seit Wochen tägliche nachrichtendienstliche Lageeinschätzungen zur Situation in der Ukraine, über Russlands Verluste, militärische Erfolge und Niederlagen.

Die Informationsoffensive der Geheimdienste war anfänglich wohl von der Hoffnung geprägt, auf diese Weise einen Krieg vielleicht doch noch verhindern zu können – oder zumindest die Propaganda und Lügen des Kreml im Vorfeld zu entlarven. Innerhalb weniger Wochen wurde angesichts des drohenden Krieges die sonst übliche Verschwiegenheit zumindest teilweise aufgehoben.

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