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Taliban im Kinderzimmer

von Florian Flade

Der radikale Islam wächst in Deutschland schneller denn je. Junge Menschen, Migranten und Deutsche, werden zu Anhängern einer hasserfüllten Gewalt-Ideologie. Die Politik tut sich bislang schwer bei der Prävention.

Andi-Comic aus NRW – Auf dem Schulhof vor dem Salafismus warnen. Effektiv oder Alibi?

Es ist der 16. Oktober, 07:30 Uhr, als Hilal Bulut die elterliche Wohnung in Ratingen bei Düsseldorf verlässt. Die 16-jährige Türkin hat an diesem Morgen einen Arzttermin. Sie trägt eine lange schwarze Jacke, ein braunes Kopftuch und braune Turnschuhe (Chucks). Es ist das letzte Mal, dass Hilals Eltern ihre Tochter gesehen haben. Hilal kam an jenem Dienstag nicht mehr nach Hause.

Am späten Abend alarmierten die Eltern die Polizei, die daraufhin eine Suchaktion einleitet. Bislang erfolglos. Wurde Hilal Opfer eines Gewaltverbrechens? Die Ermittler in Düsseldorf sagen, darauf gebe es bislang keine Antwort. Die Eltern der Vermissten hätten einen ganz anderen Verdacht geäußert. Sie befürchten, ihre Tochter könnte sich in einen Islamisten verliebt haben.

Hilal, eine ausgezeichnete Gymnasiastin, war nach Angaben der Eltern in den vergangenen Monaten häufig im Umfeld radikaler Islamisten, sogenannter Salafisten, gesehen worden. Sie soll dort einen 18-Jährigen kennengelernt haben. Ihr Interesse am radikalen Islam wuchs. Das Mädchen bat die Eltern angeblich sogar um Erlaubnis, den Nikab – ein Gesichtsschleier – tragen zu dürfen. Doch die Eltern lehnten ab.

Inzwischen suchen Freunde mit einem Youtube-Video und Aufrufen bei Facebook nach der verschwunden 16-jährigen Muslimin. Der Staatsschutz hat aufgrund des vermuteten islamistischen Hintergrundes die Ermittlungen übernommen.

Der Fall verdeutlicht, wie schnell der Salafismus Jugendliche in seinen Bann ziehen und dabei mitten in Deutschland ganze Familien zu zerstören vermag. Experten warnen, es bedürfe dringend umfangreicher Aufklärung und Frühwarnsysteme. Junge Menschen müssten vor dem radikalen Islam geschützt werden, noch bevor die extremistische Ideologie ihren Verstand vergiftet hat.

„Niemand wird als Dschihadist geboren“, sagte Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) jüngst bei einer Fachtagung. Radikalisierungsprozesse müssten daher so früh wie möglich erkannt und unterbrochen, am besten von vornherein verhindern werden.

Doch während Salafisten weiterhin mit Zehntausenden Koran-Übersetzungen in Fußgängerzonen neue Anhänger gewinnen und Jugendliche in sozialen Netzwerken ködern, steckt die Präventionsarbeit hierzulande noch in den Anfängen fest. In den vergangenen Jahren setzte der Staat in erster Linie auf Beobachtung und Repression.

Die Überwachung und Verhaftung von mutmaßlichen und echten Bombenbauern hat vielleicht Anschläge verhindert. Den Zuwachs in der salafistischen Szene konnte das aber nicht verhindern. Im Gegenteil: Die Festgenommenen sind oftmals sogar zu Idolen für den radikalen Nachwuchs geworden.

Jetzt denken die Innenminister der Länder um. Prävention rückt zunehmend in den Mittelpunkt. Hauptaugenmerk, so der Konsens von Behörden und Experten, müsse darauf liegen, zukünftige Salafisten, deren Eltern, Freunde und das weitere soziale Umfeld über die Gefahren des Extremismus aufzuklären – sei es zu Hause, in der Schule, bei der Arbeit oder auf dem Fußballplatz.

Vor allem Eltern müssen für das Thema sensibilisiert werden. Sie können in vielen Fällen präventiv eingreifen, noch bevor das Kind zum islamistischen Gotteskrieger mutiert und auf dem Radar der Geheimdienste erscheint. Allerdings fehlt den Eltern oft das entsprechende Wissen.

Sie können selten unterscheiden zwischen Mainstream-Islam und dem Salafismus. Und selbst wenn sie es können, wissen sie oft nicht, wie sie reagieren sollen. Viele haben Angst, ihr Kind komplett an die islamistische Szene zu verlieren.

Die Zeit drängt, denn die Zahlen sind alarmierend. Allein in Nordrhein-Westfalen hat sich die Zahl der Islamisten laut Verfassungsschutz in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr auf fast 1000 Personen verdoppelt. „Diese Entwicklung bereitet mir große Sorgen“, sagte Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) der „Welt“.

„Die Salafisten sprechen Jugendliche mit Migrationshintergrund genauso an wie Konvertiten und Nichtmuslime. Oft sind das junge Leute in einer kritischen Lebenssituation.“ Das Angebot der radikalislamischen Seelensänger: ein einfaches Weltbild von Gut gegen Böse, Gruppenzugehörigkeit, das Heilsversprechen vom Paradies. Die Radikalen bieten Orientierung und einfache Alltagsregeln in der hektischen Welt von heute.

Sie zielen dabei auf orientierungslose Teenager, die Halt und Anerkennung suchen. „Das Einstiegsalter in die Szene wird immer niedriger, im Einzelfall liegt es schon bei 14 oder 15 Jahren“, warnt Hans Wargel, Präsident des niedersächsischen Verfassungsschutzes. „Über die soziale Dynamik des Salafismus’ hierzulande wissen wir allerdings immer noch zu wenig.“

Sektenberatungen und Aussteigerprogramme für Rechtsextremisten und Scientologen blicken inzwischen auf jahrzehntelange Erfahrung zurück. Der Salafismus als Jugend-Subkultur ist hingegen absolutes Neuland. Wer hier erfolgreich sein will, muss Religion, Kultur, Sprache und nicht zuletzt auch den radikalislamischen Strukturen in Deutschland kennen.

Ab wann ist Glaube nicht mehr nur Frömmigkeit sondern Fanatismus? Wo endet Extremismus und wo beginnt Terrorismus? Der Staat – sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene – tut sich bislang schwer mit den richtigen Antworten.

Präventionsprojekte in den Bundesländern und eine bundesweite Plakat-Aktion ernten harsche Kritik. Als „unsensibel“ und „ineffektiv“ verspotteten Kritiker die Kampagne „Vermisst“ des Bundesinnenministeriums (BMI), die im August startete. Ziel war es, mit Plakaten auf die Beratungsstelle „Radikalisierung“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aufmerksam zu machen.

Mehrere muslimische Verbände fühlten sich diffamiert und kündigten daraufhin die Sicherheitspartnerschaft mit dem Bundesinnenministerium. Dennoch wertet man dort die Kampagne als Erfolg. „Wer wirklich betroffen ist, findet diese Plakat-Aktion gut“, sagt Barbara Slowik, veranwortliche Referatsleiterin im Innenministerium. Die Zahl der Beratungsfälle habe zugenommen. Eltern wüssten nun, dass es ein Beratungstelefon gibt.

Die einzelnen Bundesländer gehen wiederum ihren eigenen Wege. In Niedersachsen rief das Innenministerium jüngst das Handlungskonzept „Antiradikalisierung“ ins Leben. Die Experten vom Verfassungsschutz erstellten dafür eine Informationsbroschüre zum Salafismus, die im Juni vorgestellt wurde.

Das Papier richtet sich an Behörden, Eltern, Sozialarbeiter, Lehrer und Arbeitgeber. Als „Islamisten-Checkliste“, die Vorurteile und Misstrauen gegenüber Muslimen schüre, verhöhnten SPD-Politiker daraufhin das Papier. Ähnlich harte Kritik ernteten nordrhein-westfälische Behörden schon vor vier Jahren für ein „Aufklärungs-Comic“, der Schulkinder vor dem Salafismus warnen soll.

Die Projekte aus den Bundesländern zeigen, dass es den staatlichen Institutionen sichtlich schwerfällt, das Vertrauen muslimischer Gemeinden zu gewinnen. Allzu oft verbinden Muslime die Ansprechpartner bei Polizei, Verfassungsschutz und Innenministerium mit staatlicher Überwachung und Stigmatisierung.

Andererseits kuschen politische Akteure nicht selten davor, von der muslimischen Seite ein stärkeres Engagement zu fordern. Sie fürchten als ausländerfeindlich abgestempelt zu werden.

Der palästinensische Psychologe und Islamismus-Experte Ahmad Mansour von der „European Foundation for Democracy“ berät seit Jahren Lehrer, Sozialarbeiter und Eltern im Umgang mit muslimischen Jugendlichen. Mansour glaubt, dass die wahre Front im Kampf gegen den religiösen Extremismus im Klassenzimmer verläuft.

Er hält es für unverzichtbar, Lehrer und Sozialarbeiter auf kommunaler Ebene, besonders in den Brennpunkten wie Berlin-Neukölln oder Bad-Godesberg bei Bonn, verstärkt für den islamischen Extremismus zu sensibilisieren. „Lehrer müssen extremistischen Strömungen im Klassenzimmer und auf dem Schulhof selbstsicher und mit Argumenten begegnen können“, sagt Mansour.

Zu häufig werde radikales Gedankengut, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit muslimischer Schüler aus Unwissenheit oder Angst toleriert oder als kulturelle Differenz verklärt. Es gelte dort klare Grenzen aufzuzeigen – aber gleichzeitig die religiöse und kulturelle Identität der Schülerinnen und Schüler zu respektieren.

Ein Grundproblem sei, dass in vielen traditionellen Migranten-Familien kritisches Denken nicht gefördert werde, so Mansour: „Muslimische Jugendliche müssen verstärkt lernen, kritisch zu hinterfragen. Dann sind sie weniger anfällig für Salafismus.“

Auch im Internet muss nach Expertenmeinung den salafistischen Rekrutierern der Kampf angesagt werden. Es bedarf Alternativangeboten zu den radikalen Inhalten im Netz, sagt der Berliner Soziologe Phillip Holtmann. Er erforscht seit Jahren die Internetstrategien von islamistischen Terroristen und fordert, deren Propaganda im Netz stärker zu bekämpfen.

„Im Gegensatz zu den traditionellen Moscheevereinen und Verbänden, wissen Salafisten sehr genau um die Macht des Internets“, sagt Holtmann. Gezielt würden soziale Netzwerke wie Facebook oder Videoplattformen wie YouTube genutzt, um ausgrenzende und gewaltverherrlichende Ideologien zu verbreiten.

„Junge Muslime, die im Internet nach islamischen Themen suchen, landen schon bei den ersten Treffern auf Salafisten-Webseiten, deren einschränkendes Weltbild keinerlei Spielraum für Interpretationen lässt“, sagt Holtmann, „Dort muss es moderate Alternativen geben. Google ist voll von Salafismus.“

Die salafistischen Anziehungskraft sei ein großes Problem, sagt Psychologe Mansour. Es seien einfache Botschaften in jugendgerechter Sprache, die Aufwertung der eigenen Identität, die klaren Feindbilder und die Opferrolle als Muslime, die den fundamentalistischen Islam so attraktiv für junge Menschen machen. Dahinter verberge sich jedoch eine äußerst flache Theologie. „Der Islam wird von den salafistischen Missionaren einseitig dargestellt und extrem vereinfacht“, so Mansour. „Das muss man entlarven, und zwar so, dass Jugendliche diese Islam-Interpretation als Einstiegsdroge erkennen.“