Eine Kuba-Krise im Weltall

Die US-Geheimdienste warnen, dass Russland bald schon Atomwaffen im Weltall stationieren könnte. Möglicherweise für Angriffe auf gegnerische Satelliten. Droht eine Kuba-Krise im All?

Von Florian Flade

Es war, so beschrieben es Augenzeugen, als sei plötzlich eine zweite Sonne aufgegangen. Um 23 Uhr Ortszeit, am 9. Juli 1962, erschien für wenige Minuten ein helles Leuchten am Nachthimmel über Hawaii. Das Glühen, das an Polarlichter erinnerte und selbst durch die dicke Wolkenschicht noch zu sehen war, stammte nicht etwa von einem Meteoriten, der durch die Atmosphäre schoss – es war das Ergebnis eines Atombombentests im Weltall.

Rund 400 Kilometern über der Erde hatten die USA einen nuklearen Sprengkopf gezündet, 500 Mal stärker als jene Bombe, die sie Jahre zuvor in Hiroshima abgeworfen hatten. Vom Johnston-Atoll im Pazifik war eine Trägerrakete mit der tödlichen Fracht ins All gestartet. „Starfish Prime“, so lautete der Codename dieses außerirdischen Kernwaffentests.

Die Explosion setzte einen elektromagnetischen Impuls und radioaktive Strahlung in der Atmosphäre frei. Menschen kamen, soweit man weiß, nicht zu Schaden. Aber die Atombombe forderte dennoch Opfer: Mehrere Satelliten wurden stark beschädigt und fielen kurz darauf aus. Darunter der erste britische Satellit Ariel-1 und der erste US-amerikanische TV-Satellit, Telstar.

Mehr als sechzig Jahre später könnten womöglich erneut nukleare Waffen im Weltall zum Einsatz kommen. Das zumindest befürchten die US-Geheimdienste. Sie warnen davor, dass Russland plant Atomwaffen im Orbit zu stationieren, um damit gegnerische Satelliten zerstören zu können.

Die Warnung kam an die Öffentlichkeit, weil Mike Turner, Vorsitzender des House Permanent Select Committee on Intelligence, des amerikanischen Geheimdienstkontrollgremiums, Mitte Februar völlig unerwartet eine aufsehenerregende Pressemitteilung herausgab.

„Heute hat das House Permanent Select Committee on Intelligence allen Mitgliedern des Kongresses Informationen über eine ernsthafte Bedrohung der nationalen Sicherheit zugänglich gemacht. Ich fordere Präsident Biden auf, alle Informationen im Zusammenhang mit dieser Bedrohung freizugeben, damit der Kongress, die Regierung und unsere Verbündeten offen über die Maßnahmen diskutieren können, die zur Reaktion auf diese Bedrohung erforderlich sind.“

Mike Turner, Vorsitzender House Permanent Select Committee on Intelligence, 14. Februar 2024

Kurz nach der Veröffentlichung des Statements der US-Geheimdienstkontrolleure brodelte die mediale Gerüchteküche. Es dauerte nicht lange und erste anonyme Stimmen aus der US-Politik und den Sicherheitsbehörden wurden damit zitiert, dass es sich bei besagter Gefährdung der nationalen Sicherheit wohl um neue militärische Fähigkeiten Russlands handelt – und zwar im Bezug zum Weltraum.

Das Weiße Haus, das Pentagon und der Nationale Sicherheitsberater der Biden-Regierung wollten zunächst keine weiteren Informationen zum Sachverhalt preisgeben und verwiesen auf die hohe Geheimhaltungsstufe der Informationen. Und dennoch sickerte schnell durch, dass die US-Geheimdienste offenbar Erkenntnisse darüber gewonnen haben, dass Russland wohl plant Atomwaffen im Orbit zu stationieren. Die Rede war von einer nuklearen Anti-Satelliten-Waffe, die derzeit entwickelt werde, aber tatsächlich noch nicht in die Erdumlaufbahn gebracht worden sei.

Während einige Medien von einem „nuclear armed satellite“ schrieben, hieß es in anderen Berichten, es handelte sich vielmehr um einen „nuclear powered satellite“ – ein kleiner, aber nicht unerheblicher Unterschied. Denn Berichte über die Entwicklung von atombetriebenen Satelliten in Russland gab es tatsächlich schon früher. So wurde im einem Fachmagazin im Oktober 2019 bereits das russische Projekt „Ekipazh“ beschrieben, bei dem es um einen Satelliten zur elektronischen Kampfführung ging, der wohl über einen atomaren Antrieb verfügen soll.

Mittlerweile wird auch in europäischen Sicherheitsbehörden davon gesprochen, dass die USA wohl Einblicke in die russischen Planungen zur Stationierung eines Satelliten gewinnen konnten, der über eine nukleare Komponente verfügen soll, die dazu eingesetzt werden kann, gegnerische Satelliten auszuschalten. Es soll sich also um eine Anti-Satelliten-Waffe, ASAT genannt, handeln, und nicht etwa um eine Kernwaffe, die aus dem Weltraum heraus auf Ziele auf der Erde abgefeuert werden kann.

„Wir reden nicht über eine Waffe, mit der man Menschen angreifen oder hier auf der Erde physische Zerstörung anrichten kann“, sagte der Sprecher für Nationale Sicherheit des Weißen Hauses, John Kirby. „Dennoch haben wir diese russischen Aktivitäten genau beobachtet und werden sie weiterhin sehr ernst nehmen.“

Was vergleichsweise harmlos klingen mag, ist tatsächlich jedoch eine strategisch bedeutsame Entwicklung im Bezug auf die Militarisierung des Weltalls. Immerhin wäre Russland mit einer solchen Waffe wohl in der Lage große Teile des US-amerikanischen Satellitennetzes auszuschalten. Was wiederum erhebliche Folgen für die militärische Einsatzfähigkeit der US-Streitkräfte und zahlreicher anderer Nationen hätte.

Funktionierende Satellitensysteme sind in militärischer Hinsicht essentiell. Über sie laufen große Teile der Navigation am Boden, in der Luft und zur See, sowie die Kommunikation zwischen Einheiten und auch der Einsatz von Lenkwaffen. Oder anders gesagt: Wenn Satellitensysteme ausfallen, sind die Einheiten auf der Erde im schlimmsten Fall handlungsunfähig.

Ähnlich wie im Juli 1962, als die USA im Zuge des Projekts „Starfish Prime“ eine Atombombe im Weltraum über dem Pazifik gezündet hatten, könnte ein nuklearer Angriff Russlands auf gegnerischer Satelliten durchaus auch weitere irdische Auswirkungen haben. Damals sorgte der elektromagnetische Impuls dafür, dass unter anderem in Hawaii Straßenlaternen und zahlreiche elektronische Geräte ausfielen. Ein im All ausgelöster Impuls dieser Art könnte auch heute noch weite Teile der Elektronik in den entsprechenden Regionen der Erde unbrauchbar machen würde – inklusive elektrisch betriebener Gerätschaften wie Computer, aber auch Flugzeuge, die Energieversorgung und Fahrzeuge.

Auf Satellitenkommunikation und GPS-Navigation sind zudem nicht nur Militärs angewiesen, sondern nahezu alle Bereiche der Wirtschaft, das Bankensystem, aber auch das Transport- und Verkehrwesen. Kurzum: Durch die Zerstörung von Satelliten lassen sich mitunter erhebliche Schäden auf der Erde anrichten. Im Kriegsfall stellen sie daher ein verlockendes Ziel dar.

Die fortschreitende Militarisierung des Alls ist schon seit einigen Jahren zu beobachten, ebenso die wachsende Sorge vor gezielten Angriffen auf Satelliten. Mehrere Staaten, darunter die USA, Russland und China, haben solche Einsätze in der Vergangenheit gemüht. Und schon solche Tests blieben nicht folgenlos: Bei der bewussten Zerstörung von ausgedienten Satelliten entstand derart viel Weltraumschrott, dass die zahllosen Trümmerteile für etliche Jahre im Orbit verbleiben und dort Satelliten und sogar die internationale Raumstation ISS bedrohen. Die US-Regierung – und auch die deutsche Bundesregierung – haben daher bereits zum Verzicht von Tests von Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) aufgerufen und verkündet, selbst auf derartige Tests verzichten zu wollen.

Falls Russland nun die von den USA offenbar detektierten Pläne für eine atomare ASAT-Waffe umsetzt, wäre dies nicht nur eine radikale Absage an die westlichen Forderungen solche Aktivitäten zu unterlassen, sondern eine klare Botschaft, dass Moskau ganz offensichtlich zur weiteren militärischen Eskalation bereit ist.

Warum aber würde Russland einen solchen Schritt wagen?

Ein Blick auf die Statistik liefert dafür möglicherweise einige Hinweise: Die USA verfügen über rund 2900 Satelliten (ca. 240 davon militärische Aufklärungs- und Kommunikationssatelliten), gefolgt von China mit knapp 500 Satelliten. Russland hat hingegen nur rund 200 Satelliten, etwas mehr als 100 davon sollen Militärsatelliten sein. Viele der russischen Satelliten gelte zudem als veraltet, sie stammen noch aus den 1960er und 1970er Jahren. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der neu ins All gebrachten Satelliten nicht mehr signifikant gestiegen.

Das reine Zahlenspiel macht also deutlich, dass Russland im Weltraum inzwischen weit weniger zu verlieren hat als andere Staaten, allen voran die USA. Manche Analysten sprechen gar bereits davon, dass Russland das All als militärische Domäne aufgegeben habe. Obwohl Moskau einst Pionierarbeit im Orbit leistete, und im Oktober 1957 mit dem ersten erfolgreichen Erdsatelliten Sputnik-1 die CIA und andere westliche Beobachter überraschte, scheint der Weltraum für Russland strategisch an Bedeutung zu verlieren. Es sei daher besorgniserregend, so bewerten es einige Militäranalysten, dass Russland zuletzt vor allem destruktive Technologie ins All gebracht habe.

Die USA stellen schon vor einigen Jahren fest, dass durch Russland wohl Satelliten ausgebracht worden waren, die offenbar dafür konstruiert worden sind andere Satelliten zu verfolgen, zu stören oder gar physisch zu schädigen. Die Rede ist von Flugobjekten, die wie zur Machtdemonstration ungewöhnlich nah an US-Satelliten manövriert worden sein sollen, wie etwa Kosmos-2558.

Aufgrund der neuesten Erkenntnisse zu den russischen Planungen suchte Washington wohl kürzlich das direkte Gespräch mit Moskau. Die US-Regierung habe Russland vor einer Stationierung einer nuklearen Anti-Satelliten-Waffe gewarnt, so berichtete CBS News. So soll der CIA-Chef William Burns das Thema bei Kontakten zu seinem russischen Kollegen Sergej Naryshkin angesprochen haben. Ebenso soll US-Außenminister Antony Blinken die Sache am Rande der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz mit den Amtskollegen aus China und Indien besprochen haben. Offenbar erhofft sich die Biden-Administration, dass die beiden asiatischen Atommächte auf Putin einwirken können.

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Icon, verwendet in Illustration (Quelle)

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