Der vergessene Feind

In Russland hat offenbar das Terrornetzwerk Islamischer Staat (IS) zugeschlagen. Mehr als 130 Menschen wurden in einer Konzerthalle in Moskau ermordet. Der Anschlag kam mit Ansage. Das Putin-Regime hat die Terrorgefahr unterschätzt und nutzt das Verbrechen nun für Desinformation und Kriegspropaganda.

Von Florian Flade

Was genau am Freitagabend in der Crocus City Hall in Krasnogorsk bei Moskau geschah, ist noch immer unklar. Nur wenig bestätigte Informationen sind bislang bekannt geworden. Die bisherigen Berichte, Foto- und Videoaufnahmen aber legen nahe, dass ein islamistisches Terrorkommando in die vollbesetzte Konzerthalle eindrang und mit Sturmgewehren und Pistolen auf die Menschen schoss. Dann sollen Feuer ausgebrochen sein, ein Teil des Daches stürzte daraufhin ein. Mehr als 130 Menschen sollen nach aktuellen Stand getötet worden sein.

Die Terroristen konnten wohl zuständig fliehen. Erst Stunden nach dem blutigen Attentat nahmen russische Sicherheitskräfte mehrere Tatverdächtige fest, darunter auch die vier mutmaßlichen Attentäter. Es handelt sich wohl um Tadschiken handeln, Handyvideos zeigen die festgenommenen, zum Teil misshandelten Terrorverdächtigen. Mittlerweile wurden sie in Moskau einem Gericht vorgeführt.

Russische Propagandamedien und nicht zuletzt auch Präsident Wladimir Putin behaupteten noch am Wochenende, das Terrorkommando verfüge über Verbindungen in die Ukraine, die Attentäter etwa seien nach der Tat auf der Flucht in Richtung Ukraine gewesen – was in Kyjiw und in Washington umgehend dementiert wurde.

Noch am Freitagabend bekannte sich die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) über einschlägige Social-Media-Kanäle zum Anschlag in der Konzerthalle westlich von Moskau. Zunächst in einem kurzen Bekennerschreiben ohne weitere Details zu nennen. Dann folgte ein ausführlicheres Bekenntnis, diesmal mit einem Foto der mutmaßlichen Attentäter.

Inzwischen hat die IS-Propagandastelle Amaq Media auch ein kurzes Video veröffentlicht, offenbar von den Terroristen während der Tat selbst aufgenommen. Zu sehen ist darin unter anderem, wie einer der Attentäter in einem Gang der Konzerthalle auf fliehende Menschen schießt, einem am Boden liegenden offenbar angeschossenen Mann wird die Kehle durchgeschnitten.

In Russland wird um die Toten des Attentats getrauert, aus aller Welt gibt es Beileidsbekundungen. Währenddessen läuft die russische Desinformationsmaschine auf Hochtouren. In Staatsmedien und über unzählige Social-Media-Accounts werden teils völlig abstruse Erzählungen verbreitet, wonach die Terroristen beispielsweise in der Ukraine von der NATO ausgebildet worden seien. Die CIA habe das Attentat geplant, heißt es immer wieder, hinter dem IS-Terror steckten die USA oder Großbritannien.

Es überrascht wenig, dass die Kreml-Propaganda nun versucht, den Mord an 130 Menschen als einen vom Westen gesteuerten Anschlag darzustellen. Das Putin-Regime nutzt und missbraucht das Verbrechen, um seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine weiter zu rechtfertigen.

Tatsächlich aber geht die Tat mit unangenehmen Fragen für die russische Regierung einher: Wie konnten islamistische Terroristen in einem Überwachungsstaat wie Russland ein derartiges Attentat planen und durchführen? Wieso konnte Moskaus gigantischer Sicherheitsapparat den Terror nicht verhindern? Und wieso wurden Warnungen, die es in Wochen zuvor gab, augenscheinlich ignoriert?

Eine Antwort darauf dürfte lauten: In Russland hat offenkundig ein Feind zugeschlagen, der als längst vergessen galt. Die anhaltende Gefahr des islamistischen Terrorismus ist vom Putin-Regime in seinem Kriegswahn anscheinend sträflich unterschätzt worden. Während die russischen Sicherheitsdienste im Inland vor allem mit der Jagd auf Regimekritiker, Spione, Verräter in den eigenen Reihen, und im Ausland mit Destabilisierungs- und Einflussnahme-Operationen beschäftigt sind, ist es IS-Terroristen gelungen zuzuschlagen.

Und dieser Terror kam mit Ansage. Seit Jahren steht Russland im Visier des IS, wie führende Terrorismus-Experten wie Colin P. Clarke zuletzt warnten. Dabei hatten viele Beobachter wohl gehofft, die Jahre des IS-Terrors, die schrecklichen Attentate in Paris, Brüssel, in Manchester oder auf dem Berliner Breitscheidplatz, seien vorbei. Immerhin hat die Terrorgruppe IS durch die militärischen Kampagnen in Syrien und dem Irak geografisch zumindest große Teile des einstigen Herrschaftsgebietes verloren. Das Terrorkalifat galt als besiegt.

Weiter östlich jedoch, in Afghanistan, hat sich das Terrornetzwerk allem Anschein nach in den vergangenen Jahren neu organisiert. Der regionale Ableger, Islamischer Staat – Provinz Khorasan (ISPK), oder IS-K genannt, ist mittlerweile offensichtlich schlagkräftig genug, um auch internationale Anschläge durchführen zu können.

In den aktuellen IS-Bekennerschreiben zum Attentat bei Moskau wird kein regionaler Ableger des Terrornetzwerkes explizit erwähnt. Wörtlich heißt es in der ersten Veröffentlichung von Amaq Media am Freitagabend lediglich, verantwortlich für das Attentat seien „Soldaten des Kalifats in Russland“. Innerhalb der US-Regierung, so berichteten Medien am Wochenende, geht man allerdings davon aus, dass der afghanische IS-Ableger ISPK dahinter steckt. Und auch Experten halten es für wahrscheinlich, dass es in diesem Fall eine Verbindung der Attentäter zu ISPK gibt.

Seit dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan im August 2021 ist die Terrorgefahr durch ISPK kontinuierlich gewachsen – und zwar sowohl in der Region als auch im Westen. Die US-Regierung hatte gehofft, dass die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan damit einhergehen würde, dass sich das Land zumindest nicht wieder zum Hort und Rückzugsraum für international operierende Dschihadisten entwickeln würde. Dies, so die Hoffnung, sei schließlich auch nicht im Interesse der Taliban.

Und tatsächlich führen die Taliban seit geraumer Zeit de-facto einen eigenen Anti-Terror-Kampf gegen die IS-Dschihadisten, teilweise sogar mit geheimer Unterstützung durch die USA. Allerdings wird nun drei Jahre nach dem NATO-Abzug immer deutlicher, dass die neuen Herrscher in Kabul nicht in der Lage sind, den IS-Terror effektiv zu bekämpfen. ISPK hat sich zu einer der gefährlichsten terroristischen Gruppierungen weltweit entwickelt. Das zeigt nicht nur das jüngste Attentat in Russland.

In den vergangenen Jahren sind weltweit mehrere Anschlagsplanungen mit Bezug zu ISPK bekannt geworden, vielfach weil sie durch Sicherheitsbehörden verhindert werden konnten. Elf internationale Terrorplots mit ISPK-Verbindungen zählte im vergangenen Jahr der Terrorismusforscher Aaron Y. Zelin seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, davon fünf in 2022 und sechs in 2023. Darunter drei verhinderte Attentate in Indien, zwei in Iran, drei in der Türkei und drei in Deutschland. Außerdem wurden mehrere Unterstützer, Anwerber und Finanziers des IS-Ablegers festgenommen, darunter je zwei in Großbritannien und den USA.

Erst vor rund einer Woche nahm das Bundeskriminalamt (BKA) nahe Gera die beiden Afghanen Ibrahim M. G. und Rami N. fest. Sie sollen Anhänger des ISPK sein und laut Bundesanwaltschaft nicht nur Spendengelder für in Nord-Syrien inhaftierte Dschihadisten gesammelt, sondern auch Anschläge geplant haben. Nach Erkenntnissen der Ermittler stand einer der festgenommenen Terrorverdächtigen wohl mit ISPK-Funktionären in Afghanistan in direktem Kontakt. Sie sollen M.G. dazu aufgefordert haben als „Reaktion auf in Schweden und anderen skandinavischen Ländern stattfindende Koranverbrennungen“ einen Anschlag in Europa durchzuführen. Daraufhin soll der Afghane geplant haben, in Stockholm nahe des schwedischen Parlaments Polizisten und Zivilisten mit Schusswaffen zu töten.

Es ist nicht der erste ISPK-Plot, der hierzulande verhindert werden konnte. Mehrere Terrorzellen sind in den vergangenen Jahren aufgeflogen, die mit Strukturen des regionalen IS-Ablegers in Afghanistan in Verbindung standen. Deutschen Sicherheitsbehörden nehmen die Terrorgefahr durch ISPK daher schon seit einiger Zeit sehr ernst, gerade mit Blick auf die in diesem Jahr stattfindende Fußball-Europameisterschaft und die Olympischen Spiele in Paris.

„Im Gesamtkontext der externen Provinzen des IS nimmt der ISPK eine wesentliche Rolle ein“, analysiert das BKA im August 2021. „Auch hinsichtlich der Bezüge nach Deutschland ist der ISPK als Gruppierung zu beobachten. Insbesondere durch die Nutzung sozialer Medien ergeben sich für ISPK-Kämpfer neue Möglichkeiten, internationale Netzwerke zu etablieren, Strukturen aufzubauen und konstant neue Mitglieder zu rekrutieren.“

Im März 2023 prognostizierte außerdem Michael Kurilla, Befehlshaber des US-Central Command, der afghanische IS-Ableger werde vermutlich innerhalb eines halben Jahres in der Lage sein, Ziele außerhalb Afghanistans und Pakistans anzugreifen. Diese Bewertung sollte sich bewahrheiten.

In mehreren europäischen Ländern wurden seitdem Terroranschläge mit ISPK-Bezug verhindert. Die Einschläge, so warnten Vertreter hiesiger Sicherheitsbehörden, kämen immer näher. Offensichtlich sei in Afghanistan eine dschihadistische Infrastruktur vorhanden, die nicht nur in der Lage sei Attentäter im Ausland anzuwerben und zu Gewalttaten anzuleiten, sondern auch gezielt Terrorkommandos für komplexe Anschlagsvorhaben in ein jeweiliges Land einzuschleusen.

Und dabei stehen nicht nur westliche Ziele im Visier, sondern auch Russland und Iran, die ebenfalls in der Ideologie des IS als Feinde bekämpft werden.

Im Januar erst schlugen Selbstmordattentäter von ISPK im Iran zu. Rund 90 Menschen starben bei Anschlägen in Kerman zu den Trauerfeierlichkeiten in Gedenken an Qasem Soleimani, den 2020 von den USA getöteten Kommandeur der iranischen Al-Quds-Force. Es war einer der schwersten Terroranschläge seit Bestehen der Islamischen Republik. US-Geheimdienste sollen iranische Stellen noch kurz zuvor eben genau vor einer solchen Terrorgefahr durch ISPK gewarnt haben.

Gleiches geschah offenbar Anfang März auch in Russland. Auch hier sollen amerikanische Dienste eine entsprechende Warnung an russische Dienste übermittelt haben. Kurz darauf rief die US-Botschaft in Moskau ganz explizit dazu auf, Menschenansammlungen zu meiden – unter anderem Musikveranstaltungen.

Die Sprecher des US-National Security Council, Adrienne Watson teilte inzwischen auf X mit, dass die USA die damaligen Erkenntnisse mit russischen Behörden geteilt hätten. Und zwar im Zuge der „duty to warn“-Policy. Damit gemeint ist die Weisung Intelligence Community Directive 191, die US-Nachrichtendiensten dazu verpflichtet, vor drohenden Gefahren wie Terroranschläge zu warnen. Und zwar US-Stellen genauso wie ausländische Staaten, selbst Regierungen, die den USA gegenüber eher feindselig agieren.

Das Putin-Regime aber nahm die Hinweise aus den USA offenbar nicht ernst, und tat die Warnung vielmehr als Einschüchterungsversuch und Destabilisierungsversuche des Westens ab. Nur drei Tage vor dem Anschlag auf die Crocus City Hall sprach Wladimir Putin zur Leitung des Inlandsgeheimdienstes FSB, der in Russland auch für die Terrorismusabwehr zuständig ist. Oberste Priorität für die Sicherheitskräfte sei es, so Putin, die militärische „Spezialoperation“ in der Ukraine zu unterstützen. Die Terrorwarnung der USA nannte er „provokative Aussagen“, die nur dazu gedacht seien das Land und die Gesellschaft zu erpressen und zu verunsichern.

Mittlerweile musste selbst die Kreml-Propaganda eingestehen, dass es die US-Warnung vor islamistischen Terror in Moskau gab. Sie sei jedoch, so behauptete ein Regierungssprecher, eher allgemein und zu unpräzise gewesen.

Staatspräsident Wladimir Putin erklärte indes am Montag, für den Anschlag auf die Konzerthalle Crocus City Hall seien „radikale Islamisten“ verantwortlich. Gleichzeitig erneuerte er seine substanzlose Behauptung, es habe eine Verbindung in die Ukraine gegeben. „Wir sind daran interessiert, wer der Auftraggeber ist“, so Putin. „Diese Gräueltat ist möglicherweise nur ein Glied in einer ganzen Reihe der Versuche derjenigen, die unser Land seit 2014 mit den Händen des neonazistischen Kiewer Regimes bekämpfen.“

Es bleibt abzuwarten, ob das Regime in Moskau es alleine bei diesem Narrativ eines angeblich aus der Ukraine gesteuerten islamistischen Terroranschlags belässt. Oder ob der Druck auf Putin wächst, sich als Beschützer des russischen Volkes profilieren zu müssen. Das wiederum könnte bedeuten, dass Russlands Sicherheitsbehörden nun verstärkt gegen islamistische Netzwerke vorgehen werden. Im Inland wie im Ausland.

Kurz nach dem Abzug der NATO aus Afghanistan und der Machtübernahme der Taliban äußerte ein Vertreter der russischen Nachrichtendienste im Gespräch mit dem BND, dass man die Entwicklung am Hindukusch durchaus mit Sorge beobachte. Afghanistan könnte nun wieder zu einem Hort des Terrorismus werden, vor allem für Zentralasien gehe eine große Gefahr aus. Militärisch aber werde sich Russland in Afghanistan nicht engagieren. Großbritannien, die Sowjetunion und die USA hätten dort schließlich schon Niederlagen erlitten – als nächstes könne es China versuchen.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..