Die ND-Lage

In den USA bekommt der Präsident täglich ein Lagebild von seinen Geheimdiensten präsentiert. In Deutschland wird die Bundesregierung einmal pro Woche von BND & Co. unterrichtet. Dann findet im Bundeskanzleramt die Nachrichtendienstlichen Lage (ND-Lage) statt. Was hat es mit dieser geheimen Runde auf sich?

Von Florian Flade

Der Ort, an dem es einmal in der Woche, immer dienstags, ab 10 Uhr, um Geheimnisse geht, befindet sich im vierten Stock des Bundeskanzleramtes. Hier liegt das Lagezentrum, ein abhörsicherer, schmuckloser Raum, in dem Tische und Stühle U-förmig angeordnet sind. Wöchentlich sitzen hier Männer und Frauen zusammen, die zu einer der privilegiertesten Runde des Landes gehören. Sie dürfen wissen, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist – und müssen Stillschweigen darüber bewahren.

In diesem Raum findet die Nachrichtendienstliche Lage, kurz ND-Lage genannt, statt. Dabei tragen die Chefs der Geheimdienstes des Bundes, der BND, das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und der Militärische Abschirmdienst (MAD) der Bundesregierung zu den wichtigsten Themen der Woche vor. Mit dabei sind der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), oft auch der Bundespolizei-Chef, Staatssekretäre aus dem Innen-, dem Justiz- und dem Verteidigungsministerium sowie aus dem Auswärtigen Amt. Die geheime Runde leiten der Chef des Bundeskanzleramtes, Helge Braun, und der Beauftragte für die Nachrichtendienste des Bundes, Staatssekretär Johannes Geismann.

Die ND-Lage gilt als die wichtigste Sicherheitsunterrichtung der Bundesrepublik. In vergleichsweise kurzer Zeit, innerhalb von ein bis zwei Stunden, bekommt die Regierung allwöchentlich von den Spionen und Ermittlern mitgeteilt, welche Gefahren und Bedrohungen es derzeit für die Bürgerinnen und Bürger des Landes gibt. Welche weltpolitischen Krisen und Konflikte die Interessen der Bundesrepublik betreffen und ihre Sicherheit gefährden könnten. Es sind Berichte über Krieg und Konflikte, über die Terrorgefahr, Mordanschläge, Hackerangriffe und Geiselnahmen.

Deutschland leistet sich große Sicherheitsbehörden mit vielen Tausend Mitarbeitenden, mit Budgets, die in den vergangenen Jahren immer weiter gewachsen sind und mit Befugnissen, die ausgeweitet wurden. Die Arbeit der Nachrichtendienste findet naturgemäß im Verborgenen statt, aber die Spionage durch den BND und die Aufklärungsarbeit des Verfassungsschutzes, soll kein Selbstzweck sein – und die Dienste keine willfährigen Werkzeuge einer bestimmten politischen Agenda.

Die Dienste sollen vielmehr Informationen sammeln und bewerten, Einschätzungen und Prognosen abgeben und somit die Regierung in die Lage versetzen, in bestimmten Bereichen bessere, fundiertere Entscheidungen zu treffen. Die Kanzlerin und ihre Ministerinnen und Minister sollen dabei unterstützt werden bestehende Krisen zu lösen oder aufkommende Krisen zu verhindern.

Die Unterrichtung durch die Geheimdienst-Chefs ist zwar nur eine Quelle aus der die Bundesregierung Informationen schöpfen kann – aber mitunter eine äußerst wertvolle. Die Wertschätzung der Dienste und ihrer Arbeit unterlag im Laufe der Jahre allerdings teils erheblichen Schwankungen. Manch ein Bundeskanzler soll die tägliche Zeitungslektüre den BND-Berichten vorgezogen haben, und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hielt lange einen deutlichen Sicherheitsabstand zu den Spionen.

Welche Bedeutung hat die ND-Lage tatsächlich für das Regierungshandeln? Und wie genau laufen die geheimen Sitzungen ab?

Auch wenn die nachrichtendienstliche Lage schon seit Jahrzehnten stattfindet, gibt es erstaunlich wenig öffentliche Informationen darüber. Anekdotenhaft berichten immer wieder ehemalige und langgediente Sicherheitsbeamte davon. So schreibt beispielsweise der Ex-Bundesinnenminister und ehemalige Kanzleramtschef Thomas de Maizière in seinem Buch „Regieren – Innenansichten der Politik“ über die wöchentliche, geheime Runde. Und auch der ehemalige BND-Präsident Gerhard Schindler erwähnt sie in seinem Buch „Wer hat Angst vorm BND?“

„Dienstag ist Kulttag“, schreibt Schindler und spricht der ND-Lage eine gewisse Mystifizierung zu. Dabei sei die Runde ja gar kein offizielles Beschlussgremium, sondern es gehe in erster Linie um einen Informationsaustausch zwischen den Behörden und mit der Regierung. „Dies war und ist wichtig genug, um jeden Dienst diese aufwendige Veranstaltung durchzuführen“, so der Ex-BND-Chef. „Wenn es diese Runden nicht gäbe, müsste man sie rasch einführen! Und natürlich hängt es auch vom jeweiligen Chef des Bundeskanzleramtes ab, ob und wie er dieses Instrument nutzen will.“

Und wie genau läuft das Briefing durch die Geheimdienste ab? Jeden Dienstagmorgen, ab 10 Uhr, tragen die Präsidenten von BND, BfV, MAD, BKA und Bundespolizei im Raum des Lagezentrums des Bundeskanzleramtes nacheinander vor. Die Themenauswahl findet im Vorfeld statt und wird gemeinsam mit dem Beauftragten für die Nachrichtendienstes des Bundes und dessen Stab erarbeitet. Dazu gibt es ein sogenannten „Pre-Briefing“, bei denen Dienste vorschlagen, was sie gerne in der nächsten ND-Lage präsentieren möchten. Aber auch die Bundesregierung äußert Wünsche, zu welchen Themen vorgetragen werden soll.

Nicht selten werden Berichte, die nicht als besonders dringend gelten, auf die kommende Woche verschoben oder auf einen noch späteren Zeitpunkt. So manche Themen werden bereits vorab von der Tagesordnung gestrichen. Entweder, weil sie als nicht wichtig genug erachtet werden, dass das Kanzleramt davon erfahren muss. Oder eben, weil es sich um Sachverhalte handelt, die auf anderen Kanälen besprochen werden sollen.

Große Runde und kleine Runde

Die ND-Lage selbst wird vom Chef des Kanzleramtes geleitet, er eröffnet die Runde. Danach tragen die Geheimdienst-Leiter nacheinander vor. Wer beginnt, das wechselt von Woche zu Woche. Vielfach lesen die Behördenchefs dann von Sprechzetteln ab, die ihnen die Fachabteilungen zuvor erstellt haben. Immer wieder kommt es aber auch vor, dass auch Abteilungsleiter oder sogar Sachbearbeiter anwesend sind und den Bericht selbst vortragen oder zumindest für Nachfragen zur Verfügung stehen. Komplexere Sachverhalte, wie beispielsweise Cyberangriffe oder militärische Aktivitäten in Kriegsgebieten, werden der Runde oft unterstützt durch Folien, Satellitenbilder oder anderes Anschauungsmaterial präsentiert.

In Corona-Zeiten wurde die ND-Lage auf eine geheime Videoschalt-Konferenz umgestellt, so dass die Teilnehmer nicht physisch im Kanzleramt anwesend sein mussten. Die gesamte Unterrichtung dauert meist knapp zwei Stunden. Man sei gut beraten, sich möglichst knapp zu fassen, sagen Personen, die in der ND-Lage vorgetragen haben. Die Aufmerksamkeitsspanne der Regierungsvertreter sei an einigen Tagen ziemlich kurz. Ein Kanzleramtschef soll sogar wiederholt in der ND-Lage eingeschlafen sein.

Direkt nach der ND-Lage findet im Kanzleramt noch eine zweite Runde statt, die sogenannte „Präsidentenrunde“. Im siebten Stock des Nordflügels, auf der Etage, auf der auch die Kanzlerin ihr Büro hat, kommen die Geheimdienst-Chefs noch einmal in kleiner Runde zusammen. Mit dabei sind der Kanzleramtschef, sein Abteilungsleiter 7, der für die Fachaufsicht über den BND zuständig ist. Andere Behördenmitarbeiter dürfen nicht dabei sein. Es gibt dann ein gemeinsames Mittagessen, meist aus der Kantine des Kanzleramtes. Früher durfte auch noch geraucht werden. Über die „Präsidentenrunde“ wird kein Protokoll geführt, es handelt sich um ein geheimes Treffen, bei dem besonders heikle Themen besprochen werden. 

Über Personen aus Deutschland, die von der CIA entführt und nach Guantánamo verschleppt wurden, wurde bei der „Präsidentenrunde“ gesprochen. Oder über das Verhältnis zu den USA nach den Snowden-Enthüllungen, wie man darauf reagieren solle, und welche Konsequenzen die Veröffentlichungen für die Zusammenarbeit zwischen deutschen und US-amerikanischen Diensten haben könnte – oder sogar sollte.

Auffällig ist: Die ND-Lage und die „Präsidentenrunde“ sind keine expliziten Unterrichtungen der Kanzlerin, sondern des Kanzleramtschefs. Die Regierungsebene wird in Kenntnis gesetzt, aber die Regierungschefin sitzt eben nicht mit am Tisch. Eine solche Konstruktion sei Absicht, so beschreiben es Personen, die die ND-Lage aus eigenem Erleben kennen. Es gelte hier das „Need-to-Know“-Prinzip. Eben weil vieles auch nicht so relevant sei, dass es der Kanzlerin direkt vorgetragen werden müsse. Aber nicht nur deshalb ist eine Ebene dazwischen geschaltet.

In der Welt der Geheimdienste gibt es so einige Situationen und Aktionen, über die die Regierungsspitze vielleicht nicht unmittelbar in Kenntnis gesetzt werden sollte. Und sei es nur, um bei einem potenziellen Skandal oder Affäre wahrheitsgemäß behaupten zu können: Die Regierungschefin sei darüber nicht informiert gewesen. In so manchen heiklen Situationen kann dies durchaus von Vorteil sein – etwa um schwerwiegende diplomatische Krisen zu vermeiden.

Die Gurken-Fabrik

In den USA hingegen wird der Präsident persönlich von den Geheimdiensten über wichtige Vorkommnisse und Ereignisse unterrichtet. Und zwar täglich. Diese Praxis hat John F. Kennedy im Jahr 1961 eingeführt, nach dem Debakel um die Invasion in der Schweinebucht auf Kuba. Präsident Kennedy verlangte damals nach einem tagesaktuellen Briefing über die wichtigsten Themen der nationalen Sicherheit. Sein Militärberater, Major General Chester Clifton, soll daraufhin die CIA angewiesen haben, eine solche Unterrichtung, ein nachrichtendienstliches Produkt, anzufertigen. Clifton schlug den Verantwortlichen im damaligen Office of Current Intelligence (OCI) der CIA vor, ein tägliches Dossier zu erstellen. Und zwar klein genug, so dass es der Präsident in seiner Brusttasche mit sich führen konnte.

Am 17. Juni 1961 erhielt Präsident Kennedy erstmals sein gewünschtes Geheimdienstdossier, das President´s Intelligence Checklist (PICL). Es war sieben Seiten dick, 21,6 cm hoch und 20,3 cm breit, und enthielt 14 Kurzberichte der CIA zu diversen Ländern und Themen. Das kleine Heft wurde Kennedy in sein Haus bei Middleburg (Virginia) gebracht, der Präsident soll es auf dem Sprungbrett seines Pools sitzend gelesen haben.

Das PICL wurde fortan täglich erstellt, auch nachdem Kennedy im November 1963 ermordet wurde. Der Umfang des Dossiers wuchs mit der Zeit. Aufgrund des Titels nannten viele CIA-Mitarbeiter ihre Behörde damals scherzhaft die „pickle factory“, die Gurken-Fabrik.

Unter Präsident Lyndon B. Johnson wurde ein weiteres nachrichtendienstliches Lagepapier produziert, The President´s Intelligence Review, das erstmals am 9. Januar 1964 erschien und dem Präsidenten zwei Mal wöchentlich ausgehändigt wurde. Es hatte ein ähnliches Format wie das PICL, die einzelnen Themen waren allerdings stark verkürzt dargestellt – jeder Bericht durfte maximal drei Sätze lang sein. 

Ab November 1964 schließlich wurde dann ein neues, tägliches Dossier ins Leben gerufen, das President´s Daily Brief (PDB), das bis heute existiert. Anders als das PICL enthielt es auch Analysen und Prognosen der CIA und nicht nur schlichte Darstellungen von Ereignissen. Das PDB umfasste zeitweise zehn Seiten und mehr, und wurde Anfang 1964, während der Präsidentschaft von Richard Nixon, sogar zwei Mal täglich, morgens und abends, vorgelegt.

Heute wird das PDB durch den Director of National Intelligence (DNI) zusammengestellt und jeden Morgen an den Präsidenten geliefert. Und zwar nicht mehr in Papierform, sondern inzwischen digital. Auf Wunsch von Präsident Barack Obama wurde im Februar 2014 eine elektronische Version entwickelt, die auf einem Tablet gelesen werden kann und auch Multimedia-Elemente wie Videos und Links zu weiterführenden Informationen enthält. Zudem sind es nicht mehr nur Erkenntnisse der CIA, die im PDB verarbeitet werden, sondern es ist ein Sammelsurium an Informationen auch anderer Dienste und Sicherheitsbehörden. 

Anders als früher finden zudem inzwischen regelmäßig Unterrichtungen des US-Präsidenten direkt durch die Mitarbeiter der US-Geheimdienste etwa im Oval-Office statt. Es gibt demnach nicht nur das Dossier, sondern es besteht auch die Möglichkeit, die Sachbearbeiter direkt zu fragen.

Eines der bekanntesten Geheimdienst-Briefings der USA, das öffentlich bekannt wurde, stammt aus dem August 2001. Damals warnte die amerikanischen Sicherheitsbehörden den Präsidenten George W. Bush, dass Al-Qaida-Chef Osama Bin Laden „entschlossen“ sei in den USA zuzuschlagen. Auch die Entführung von Passagierflugzeugen wurde als mögliches Szenario beschrieben – nur wenige Wochen vor den Terroranschlägen in New York City und Washington D.C. am 11. September 2001.

Geheimdienst-Unterrichtung für Präsident George W. Bush, 06. August 2001

Vertrauensverlust und Wertschätzung

Donald Trump, so war in den vergangenen Jahren mehrfach in US-Medien zu lesen, soll in seiner Amtszeit das PDB größtenteils nicht oder nur sehr oberflächlich gelesen haben. Er hatte zudem mehrfach sensible Geheimdienstinformationen öffentlich gemacht – zum Entsetzen der US-Dienste. Etwa als er eine Aufnahme twitterte, die ein amerikanischer Spionagesatellit von einer iranischen Militäranlage gemacht hatte.

Der aktuelle US-Präsident Joe Biden wiederum soll der täglichen Unterrichtung durch die Geheimdienste einen hohen Stellenwert beimessen. Schon im vergangenen Jahr sagte Anthony Blinken, nun Außenminister der USA, Biden habe das PDB bereits während seiner Zeit als Vize-Präsident unter Obama sehr geschätzt. 

„Er sagte, er habe sich dank des PDB so gut informiert darüber gefühlt, was auf der Welt passiert, und dass diesen Zugang zu verlieren, sich wie eine echte Leere angefühlt habe. Ich denke, dass ist der Beleg der Wertschätzung, die er für die Arbeit der Geheimdienst-Community, weil das PDB natürlich ihr wichtigstes Produkt ist“ 

Anthony Blinken, Oktober 2020

Auch in Deutschland gibt es eine tägliche Unterrichtung des Kanzleramtes durch den BND. Sehr knapp zusammengefasst, nach genauen redaktionellen Vorgaben, sind darin Meldungen enthalten, die als besonders wichtig erachtet werden. Jeden Morgen wird dieser Bericht an die Regierungsspitze geliefert. Die wirklich umfassende Unterrichtung, bei der auch direkt Nachfragen gestellt werden können, ist allerdings die dienstägliche ND-Lage.

Welche Bedeutung die ND-Lage für die Bundesregierung hat, ist schwer zu sagen. Denn öffentlich äußert sich dazu kaum jemand. Im Laufe der Jahrzehnten haben die Regierungen sehr unterschiedliche Haltungen zu den Diensten und deren Prognosen entwickelt. Helmut Schmidt soll den BND als „Dilettantenverein“ bezeichnet haben, er lese lieber die Neue Zürcher Zeitung als sich von den deutschen Spionen über weltpolitische Ereignisse unterrichten zu lassen. Gerhard Schröder, sein Außenminister Joschka Fischer und Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier hingegen sollen den BND sehr geschätzt haben.

Lob und Distanz

Angela Merkel wiederum hatte über viele Jahre eher ein Nicht-Verhältnis zu den Spionen. Und wenn sie sich äußerte, dann wurde die Arbeit der Geheimdienste oft ziemlich floskelhaft als wichtig und wertvoll bezeichnet. Der BND leiste einen unverzichtbaren Beitrag für die Sicherheit Deutschlands, lobte Angela Merkel im November 2016 bei einer Rede anlässlich des 60. Geburtstages des BND. Und deutete an, dass auch sie persönlich die Information des Dienstes schätzt.

„In all diesen beispielhaft skizzierten Feldern (…) stehen wir vor der Herausforderung, nicht nur kurzfristige Lösungen, sondern auch langfristige Strategien zu entwickeln. Hierbei ist die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes von hoher Bedeutung. Er trägt dazu bei, dass wir – und hierbei schließe ich mich mit ein – gute, fundierte Informationsgrundlagen besitzen, um Entscheidungen treffen zu können. Zugleich leistet der BND mit seinen Erkenntnissen einen wesentlichen Beitrag zur Arbeit der anderen Sicherheitsbehörden (…) Die Arbeit der Nachrichtendienste ist für die Bundesrepublik Deutschland unverzichtbar. Wir brauchen ihre Informationen als Grundlage einer effektiven Sicherheitspolitik.“

Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Festakt zum 60-jährigen Bestehen des Bundesnachrichtendienstes am 28. November 2016 in Berlin

Und im Februar 2019, bei der offiziellen Eröffnung der neuen BND-Zentrale in Berlin-Mitte, sagte die Kanzlerin, Deutschland brauche „einen starken und leistungsfähigen Auslandsnachrichtendienst dringender denn je“

Wie oft die Erkenntnisse der Dienste und deren Vorträge im Kanzleramt allerdings tatsächlich in jüngerer Zeit politische Entscheidungen beeinflusst haben – das bleibt weitestgehend unklar. Und damit auch die Frage, welchen Wert die wöchentliche ND-Lage hat. Nur in sehr wenigen Fällen soll die Kanzlerin selbst in der Runde gewesen sein, und dann auch nur für kurze Zeit, um sich zu einem bestimmten Bereich unterrichten zu lassen.

Breites Themenfeld

Von Teilnehmern der geheimen Runde heißt es, in der Vergangenheit habe es durchaus Berichte gegeben, die anschließend Regierungshandeln beeinflusst hätten. Etwa Einschätzungen des BND zur Sicherheitslage in Afghanistan, Irak und in Mali oder zum Ukraine-Konflikt und zu russischer Cyberspionage. Oder auch bei Geiselnahmen.

Die Entführung von deutschen Staatsbürgern im Ausland ist regelmäßig Thema in der ND-Lage. Die Bundesregierung will von den Diensten wissen, was über die Geiselnehmer und den Aufenthaltsort der Geisel bekannt ist. Und welche Prognose, sie für den jeweiligen Fall abgegeben: Wie solle man vorgehen, um das Leben einer Geisel zu retten? Welche Verhandlungsstrategie wird als zielführend erachtet? Wäre eine Befreiungsaktion denkbar? Oder sollte man lieber Lösegeld zahlen? Und falls ja, wie viel?

Von besonders großem Interesse für das Kanzleramt seien die innenpolitischen Themen, heißt es von Personen, die an der ND-Lage teilgenommen haben. Alles, was die öffentliche Sicherheit gefährden könnte – oder sich auf die Stimmung in der Bevölkerung auswirken könnte. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) berichte daher oft umfangreich über Entwicklungen im Bereich des islamistischen Terrorismus und Rechtsextremismus. 

Als zahlreiche Dschihadisten aus der Bundesrepublik in die Kriegsgebiete Afghanistan, Syrien und Irak reisten, wurde dazu regelmäßig vorgetragen. Ebenso über Hinweise zu möglicherweise in Deutschland geplanten Terroranschlägen und zu den Ermittlungen nach Attentaten wie dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016. 

Das Auffliegen der Neonazi-Terrorzelle NSU und der daraus resultierende Skandal für den Verfassungsschutz war über viele Monate hinweg Thema in der ND-Lage. Über den Mord an Walter Lübcke wurde gesprochen und über das Attentat auf den Tschetschenen Zelimkhan Khangoshvili im Kleinen Tiergarten in Berlin, das von einem mutmaßlichen Auftragsmörder des russischen Geheimdienstes verübt worden sein soll. 

Ab und an geht es in den Dienstagsrunden auch im ziemlich kuriose Fälle. Als im April 2017 ein Sprengstoffanschlag auf den BVB-Mannschaftsbus in Dortmund von einem Bombenleger verübt wurde, der mit Sportwetten Geld machen wollte, ließ sich das Kanzleramt in der ND-Lage vom BKA über die Ermittlungen auf dem Laufenden halten. Obwohl der Fall letztendlich nichts mit Terrorismus oder Extremismus zu tun hatte.

Auch Spionage-Themen stehen immer wieder auf der Tagesordnung der ND-Lage. Dann geht es oft um Hackerangriffe aus China und Russland, und um die Aktivitäten der türkischen, vietnamesischen oder iranischen Geheimdienste in Deutschland. Aber auch die Enthüllungen von Edward Snowden, die Ausspähungen durch die NSA und die Abhörpraxis des BND wurde umfassend thematisiert. Und die Festnahme eines Schweizers, der für den Geheimdienst seines Heimatlandes deutsche Steuerfahnder bespitzelt haben soll.

Zuletzt berichtete der Verfassungsschutz dem Kanzleramt auch umfangreich über die Proteste der Corona-Leugner und selbsternannten „Querdenker“. Es wurde vorgetragen, wie viele Demos angemeldet worden waren, wie viele tatsächlich stattfanden, welche Trends zu beobachten sind und welche Akteure für die Szene maßgeblich von Bedeutung sind. Auch zu „hybriden Bedrohungen„, möglicher Wahlbeeinflussung durch ausländische Staaten und Desinformationskampanen trugen die Verfassungsschützer im Kanzleramt vor.

Der BND wurde außerdem zu etwaigen Erkenntnissen über den Ursprung des SarsCoV2-Virus gefragt – und zu chinesischen Propagandaaktivitäten rund um den Pandemie-Verlauf. Die Nuklearprogramme Irans und Nordkoreas wurden in der ND-Lage einige Male besprochen, der Einsatz von Chemiewaffen in Syrien. Genau wie Erkenntnisse des BND und der Bundeswehr zum russischen Kampfstoff Novichok, mit dem in Großbritannien der ehemalige russische Spion Sergej Skripal und seien Tochter sowie im vergangenen Jahr der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny vergiftet worden waren.

Analysen sind gefragt

Bei den Vorträgen der Geheimdienste sei nicht nur die rohe Information, die bloßen Fakten, gefragt, sagen Teilnehmer der ND-Lage. Die Regierung setze vor allem auf die Analyse und Einschätzung durch die Dienste. Dabei sei es explizit gewünscht deutlich zu machen, was man wisse, und was nicht. Wo es sich um vage Hinweise oder ganz konkrete Indizien handelt. Eine klare Bewertung oder Prognose sei zwar gewünscht. Niemand solle jedoch zu einer Einschätzung gedrängt werden, die seriöser Weise nicht getroffen werden könne. Dies habe sich in den vergangenen Jahren bemerkbar verbessert, heißt es. Auch als Folge von teils gravierenden Fehleinschätzungen, die früher abgegeben worden waren.

Der BND war beispielsweise Ende 2012 der Überzeugung, dass sich das Assad-Regime in einer „Endphase“ befinde und das kommende Jahr wohl nicht überleben werde – was sich schließlich nicht bewahrheitet hat. Später sagte der damalige BND-Präsident Schindler, er habe seine Fachleute mehr oder weniger zu einer übereilten Prognose gedrängt. Beim sogenannten „Arabischen Frühling“ unterschätzte der BND die Dynamik ebenfalls. Wie weitreichend die Proteste sein würden, und dass dadurch tatsächlich mehrere Regime zu Fall gebracht werden würden – das sah der BND so nicht voraus.

In anderen Bereichen hingegen waren die Vorhersagen und Einschätzungen des Auslandsdienstes zutreffend. So zum Beispiel beim saudischen Kronprinz, der laut BND-Analyse aus dem Jahr 2015 eine aggressive Außenpolitik verfolgen werde, vor allem gegenüber dem Iran. Die Rede war von einer „impulsive Interventionspolitik“ eines jungen, ehrgeizigen Thronfolgers, der durch seinen Führungsstil den Unmut anderer Mitglieder des Königshauses auf sich ziehe.

Rüffel für den BND

Die Einschätzung teilte der Dienst nicht nur dem Kanzleramt mit, sondern auch Journalisten in einem Pressehintergrundgespräch, aus dem ausnahmsweise sogar zitiert werden durfte. Zum Unmut der Bundesregierung, die eher auf einen weichen Kurs gegenüber Saudi-Arabien setzte und keine diplomatischen Verstimmungen provozieren wollte. „Die in diesem Fall öffentlich gemachte Bewertung spiegelt nicht die Haltung der Bundesregierung wider. Die Bundesregierung betrachtet Saudi-Arabien als wichtigen Partner in einer von Krisen geschüttelten Weltregion“, sagte ein Sprecher der Kanzlerin wenige Tage nachdem die BND-Analyse öffentlich geworden war. „Der BND spricht sicher nicht für die deutsche Außenpolitik, schon gar nicht mit Dritten“, ließ das Auswärtige Amt mitteilen.

Man war sichtlich verärgert über den Dienst. Nicht so sehr über dessen Bewertung eines hochsensiblen Sachverhalts, sondern darüber, dass diese Einschätzung wohl völlig absichtlich an die Öffentlichkeit gelangte. Das Kanzleramt sei darüber informiert gewesen, hieß es damals aus dem BND. Tatsächlich aber hatte der damalige Präsident Gerhard Schindler die Fachaufsicht erst am 01. Dezember 2015, dem Tag an dem die Medienvertreter das BND-Papier ausgehändigt worden war, in Kenntnis gesetzt worden.

Nur wenige Monate später, im Juni 2016, wurde Schindler als Chef des Auslandsdienstes abgelöst. Der BND habe in erster Linie die Regierung zu informieren, und nicht die Öffentlichkeit, hieß es aus dem Kanzleramt. In diesem Fall seien Informationen nicht dort geblieben, wo sie eigentlich hingehörte, in die ND-Lage beispielsweise. Stattdessen habe sich der BND de-facto in die Politik eingemischt. Und das sei für die Kanzlerin nunmal nicht akzeptabel.

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