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Ist Al-Qaida zurück?

Zwei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan soll das Al-Qaida-Netzwerk neue Ausbildungslager in dem Land errichtet haben. Geheimdienste hatten eine solche Entwicklung prognostiziert, sehen aber noch keine erhöhte Terrorgefahr für den Westen.

Von Florian Flade

Das kleine Modellhaus befindet sich in einer rund 30 Zentimeter langen Holzkiste mit praktischem Tragegriff. CIA-Direktor William Burns hatte sie dabei, als er US-Präsident Joe Biden im Sommer 2022 im Situation Room des Weißen Hauses darüber informierte, dass seine Leute sehr wahrscheinlich den Chef der Terrororganisation Al-Qaida, Ayman al-Zawahiri, ausfindig gemacht hatten. 

Burns präsentierte eine detailgetreue Nachbildung eines dreistöckigen, weißen Hauses samt Dachterrasse, Garten mit Bäumen, und Stacheldraht besetzter Mauer rund um das Grundstück. Die CIA war sich sicher: In diesem Gebäude in der afghanischen Hauptstadt Kabul wohnt der seit mehr als zwei Jahrzehnten gesuchte Top-Terrorist Al-Zawahiri, treuer Weggefährte und Nachfolger von Osama Bin Laden. Der US-Geheimdienst sollte Recht behalten.

Präsident Biden erteilte schließlich die Erlaubnis für eine präzise Tötungsaktion. Am 31. Juli 2022, um 06:18 Uhr Ortszeit, als Ayman al-Zawahiri wieder einmal auf einen Balkon jenes Hauses im Kabuler Nobelviertel Sherpur trat, feuerte eine amerikanische Kampfdrohne zwei Raketen ab. Der Ägypter wurde sofort getötet, er war das einzige Opfer des Luftangriffs.

Das Modell des Zawahiri-Hauses wird mittlerweile im CIA-Museum ausgestellt. Der Tod des Al-Qaida-Anführers wurde von der US-Regierung als großer Erfolg im Kampf gegen den internationalen Terrorismus bezeichnet. Immerhin galt Al-Zawahiri als einer der Drahtzieher hinter den 9/11-Anschlägen und zahlreicher weiterer Terrorakte weltweit. Viele Jahre hatten die US-Geheimdienste den Islamisten gejagt, auf ihn war ein Millionen-Kopfgeld ausgesetzt.

Die Tötung des Bin Laden-Nachfolgers aber macht auch deutlich: Al-Zawahiri war nicht in einem entlegenen Bergdorf in der afghanisch-pakistanischen Grenzregion aufgespürt worden, er lebte nicht in irgendeiner Höhle in den Bergen oder in einer Lehmhütte auf dem kargen Land, sondern mitten in Kabul. Nur rund ein Jahr nachdem die Taliban wieder die Macht in Afghanistan übernommen hatten, fühlte sich einer der meistgesuchten Terroristen der Welt in dem Land offenbar so sicher, dass es ihn in die Hauptstadt zog.

Die USA hatten mit den Taliban vor dem schlussendlich chaotischen Abzug der NATO-Truppen im August 2021 ein Friedensabkommen verhandelt. Das militärische Engagement der Amerikaner und der Verbündeten sollte nach 20 Jahren endlich beendet werden. Viele Bedingungen waren es nicht, die Washington den Taliban dafür zuletzt stellte. Eine aber war, dass die Islamisten künftig keine internationalen Terroristen der Al-Qaida mehr Unterschlupf gewähren sollten. Afghanistan sollte nicht erneut Rückzugsort für Dschihadisten sein, die von dort aus ihren weltweiten Terror planen können.

Wie aber ist es heute darum bestellt? Gibt es Al-Qaida in Afghanistan immer noch, oder ist die Präsenz des Terrornetzwerk unter der erneuten Herrschaft der Taliban heute womöglich sogar größer als in den Jahren zuvor?

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Zu Gast bei Feinden

von Florian Flade

Zwölf Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 leben ranghohe Al-Qaida-Mitglieder in Iran. Geschützt vom Regime in Teheran.

www.fbi.gov 2013-9-25 9 11 40

Es ist der 8.Januar 2000. Auf dem Gelände der Tarnak-Farm, eines ehemaligen sowjetischen Agrarbetriebes nahe der afghanischen Stadt Kandahar, kommen Dutzende Islamisten zusammen. Osama Bin Laden, Gründer und Anführer der Terrororganisation Al-Qaida, hat sie zu sich auf das weitläufige Gelände gerufen, wo er zu dieser Zeit mit seiner Familie und engsten Vertrauten lebt. Einige seiner Gefolgsleute tragen Kalaschnikows. Andere haben ihre Kinder auf dem Schoß.

Ein Video dokumentiert die Ansprache Bin Ladens. Als die Kamera ins Publikum schwenkt, ist für wenige Sekunden ein Mann mit weißem Turban und krausem Bart zu sehen. Er grinst. Sein Name: Saif al-Adel. Der Ägypter ist schon damals einer der ranghöchsten Führungskader der Al-Qaida. Daran hat sich bis heute formal nichts geändert, er gehört weiterhin zu den meistgesuchten Terroristen der Welt. Allein: Seit Jahren gibt es keine Spur von ihm. Immer wieder gab es widersprüchliche Angaben über seinen Aufenthaltsort.

Nach Informationen der „Welt“ lebt Saif al-Adel aktuell im Iran, zusammen mit einer Gruppe langgedienter Al-Qaida-Kader und Weggefährten Bin Ladens. Sie sind die Führungsreserve des Terror-Netzwerks. Zwölf Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gilt Al-Qaida-Führungsstruktur als entscheidend geschwächt. Unzählige mittlere und hohe Kader wurden getötet, allen voran Terrorchef Osama Bin Laden, den ein US-Elitekommando im Mai 2011 in seinem Versteck im pakistanischen Abbottabad erschoss. Doch der Fall al-Adels und anderer Al-Qaida-Kommandeure zeigt: Wichtige Strategen und Ideologen des Terrornetzwerkes konnten Amerikas Anti-Terror-Krieg entkommen. Heute leben sie, sicher geschützt vor den tödlichen CIA-Drohnen und US-Kommandoaktionen unter der Protektion des iranischen Mullah-Regimes. Die Terroristen, auf die mehreren Millionen US-Dollar Kopfgeld ausgesetzt wurden, leben seit Jahren beschützt von den iranischen Revolutionsgarden in Wohnkomplexen im Norden des Landes und im Süden von Teheran.

Nach Gesprächen mit mehreren Geheimdienstlern kann die „Welt am Sonntag“ nun nachzeichnen, wie es zu der sicherheitspolitisch sensiblen Konstellation gekommen ist. Begonnen hat das Leben der Al-Qaida im iranischen Exil kurz nach den Anschlägen von 9-11. Als der amerikanische Krieg gegen das Taliban-Regime in Afghanistan begann, zog es die meisten Al-Qaida-Kämpfer fluchtartig in den Osten des Landes. Die Gotteskrieger um Bin Laden verschanzten sich zunächst in den Höhlen von Tora Bora. Sie leisteten den anrückenden US-Einheiten und ihren afghanischen Alliierten noch einigen Widerstand, bevor sie vor dem Flächenbombardement der US-Luftwaffe über die Grenze nach Pakistan flohen.

In den dortigen Stammesgebieten von Süd- und Nordwaziristan fanden die zumeist arabischen Dschihadisten Unterschlupf bei den einheimischen Paschtunen-Stämmen. Weitestgehend autonom etablierte sich in den unzugänglichen Bergdörfern Nordwest-Pakistans eine Hochburg radikaler Islamisten. Über die Jahre formierten sich hier unter dem Schutz der diversen Taliban-Fraktionen zahlreiche Terrorgruppen. Wie einst in Afghanistan entstanden in Waziristan terroristische Ausbildungslager für die nächsten Generationen von Al-Qaida-Attentätern – fernab von den US-Truppen im benachbarten Afghanistan.

Jedoch siedelten sich längst nicht alle Al-Qaida-Führungskader in Pakistan an. Einige Terroristen, unter ihnen auch Ehefrauen und Kinder von Osama Bin Laden, traten die Flucht aus Afghanistan in Richtung Westen an. Sie zog es in den Iran. Im Herrschaftsgebiet des amerikafeindlichen Mullah-Regimes wähnten sich die Dschihadisten sicher vor den US-Terrorjägern.

Eine paradoxe Entscheidung. Denn eigentlich gelten Al-Qaida und das iranische Regime als Todfeinde. Aus Sicht der extremistischen Sunniten gelten schiitische Muslime, wie sie mehrheitlich im Iran leben, aus historischen Gründen und aufgrund ihrer religiösen Traditionen als Abtrünnige und Ketzer. Die iranische Führung wiederum sieht in Al-Qaida eine aus Saudi-Arabien finanzierte und von den USA geförderte Terrormiliz, die eingesetzt wird, um in muslimischen Ländern Chaos zu stiften und so westliche Interventionen zu rechtfertigen.

Trotzdem glaubte das Al-Qaida-Personal, im iranischen Exil unbemerkt untertauchen zu können. „Bis 2003 konnten sie sich im Iran relativ frei bewegen“, sagte ein westlicher Geheimdienst-Analyst der „Welt am Sonntag“. Dann realisierte die iranische Regierung offenbar, dass die Terroristen ein Risiko darstellen und womöglich amerikanische Aktionen gegen den Iran rechtfertigen könnten. Es setzte eine Verhaftungswelle ein. „Das Teheraner Regime nahm zumindest einige Al-Qaida-Mitglieder fest und stellte sie unter Hausarrest“, sagte der Geheimdienst-Analyst. Die Kontrolle der Terroristen, so das Kalkül in Teheran, würden Washington die Gründe für Angriffe entziehen.

Und tatsächlich hatte der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Frühjahr 2003 den Druck auf das iranische Regime erhöht. Iran habe „mehreren führenden Köpfen von Al-Qaida Unterschlupf gewährt“, so Rumsfeld. Ein Sachverhalt, den Teheran im Juli 2003 offiziell einräumte. Etliche Al-Qaida-Terroristen seien festsetzt worden.

Bewacht von Mitgliedern der „Hamza“-Einheit der iranischen Revolutionsgarden wurden die Al-Qaida-Mitglieder und Angehörige der Bin Laden-Familie in Wohnhäuser rund um die iranische Hauptstadt Teheran und im Norden des Landes einquartiert. Sie fristen seitdem ein Leben in einer Art offenem Vollzog. Während die Frauen bewacht von iranischen Sicherheitskräften die Häuser zum Einkaufen verlassen dürfen, stehen die Terror-Kommandeure unter Hausarrest.

„Die Beziehungen zwischen Al-Qaida und Iran waren schon immer sehr angespannt“, sagt der Terrorismus-Experte Peter Bergen der „Welt am Sonntag“. Osama Bin Laden habe den Iranern nie vertraut, wie Briefe aus seinem Versteck in Pakistan belegen.

Die „Sicherheitsverwahrung“ der Al-Qaida-Mitglieder erwies sich für Iran allerdings als äußerst glücklicher historischer Zufall: Das Mullah-Regime setzte die Führungsreserve des Terrornetzwerkes als Tauschobjekt ein. Am 13.November 2008 entführten Islamisten im pakistanischen Peschawar den iranischen Diplomaten Heshmatollah Attarzadeh-Niyaki und verschleppten ihn in die Stammesregion Süd-Waziristan. Der Konsul befand sich zuerst in Hand einer Taliban-Gruppierung. Dann kam Al-Qaida ins Spiel.

Für das Terrornetzwerk war der entführte Iraner eine günstige Gelegenheit die im Iran festgehaltenen Mitglieder freizupressen. Teheran zögerte anfänglich, willigte dann aber in den strenggeheimen Geiselaustausch ein. Als erste durfte eine Gruppe Al-Qaida-Terroristen der unteren Führungsebene gehen. „Als dann der Diplomat Attarzadeh-Niyaki im März 2010 in den Iran zurückkehren durfte, ließen die iranischen Behörden auch die mittlere Führungsebene der Al-Qaida ziehen“, berichtet ein westlicher Geheimdienstler. Im Zuge des geheimen Geiselaustausches kamen auch Bin Ladens Sohn Saad und die damals 18-jährige Tochter Iman frei. Saad fügte sich in die Terrorstrukturen des Netzwerkes im pakistanischen Waziristan ein und starb im Sommer 2009 bei einem US-Drohnenangriff.

Heute stehen nach Informationen der „Welt“ noch immer mindestens sechs Al-Qaida-Kader unter iranischem Hausarrest. Einer von ihnen ist der Ägypter Saif al-Adel. Der 53-jährige gilt als ein Al-Qaida-Mann der ersten Stunde. Er diente im ägyptischen Militär, schloss sich dann in den 1980er Jahren einer islamistischen Terrorgruppe in Ägypten an. In Afghanistan kämpfte Al-Adel gegen die Sowjet-Truppen und lernte dabei auch den wohlhabenden Saudi-Araber kennen, der Islamisten aus aller Welt um sich sammelte: Osama Bin Laden.

Innerhalb der Al-Qaida stieg der ägyptische Ex-Soldat zu einem führenden Strategen für die internationale Terrorplanung auf. Al-Adel konnte wohl auch die 9-11-Todespiloten um Mohammed Atta. Nachdem der Militärchef des Terrornetzwerkes, der Ägypter Mohammed Atef, im November 2001 durch eine US-Rakete ums Leben kam, trat al-Adel nach Erkenntnissen westlicher Geheimdienste offenbar dessen Nachfolge an. Kurze Zeit später verschwand al-Adel in den Iran. Einzige Lebenszeichen waren seitdem seltene ideologische Schriften, die der Terrorist im Internet veröffentlichte und E-Mail-Wechsel mit arabischen Journalisten.

Wie die „Welt am Sonntag“ aus westlichen Geheimdienstkreisen erfuhr, soll sich Saif al-Adel entgegen bisheriger Medienberichte weiterhin in einem Wohnkomplex nahe der Hauptstadt Teheran aufhalten. Dort hat der Extremist, auf den die USA ein Kopfgeld von 5 Millionen US-Dollar ausgesetzt haben, wohl auch problemlos Zugang zum Internet. Per E-Mail gab Al-Adel in den vergangenen Jahren einige wenige Interviews, in denen er sich zu Al-Qaidas globaler Dschihad-Strategie äußerte. „Solche Angriffe“, schrieb Saif al-Adel im Jahr 2005 in einer E-Mail über die 9-11-Anschläge, „zwingen sie (die Amerikaner) wahllose Aktionen zu starten und provoziert sie ernste und oftmals fatale Fehler zu begehen (…) die erste solche Reaktion war der Einmarsch in Afghanistan.“

Ebenfalls noch im Iran arrestiert ist offenbar ein Al-Qaida-Mann namens Abdullah Ahmed Abdullah alias „Abu Mohammed al-Masri“. Der Ägypter soll genau wie Saif al-Adel dabei geholfen haben, Terrorstrukturen der Al-Qaida in Ostafrika aufzubauen. Abdullah gilt als einer der Drahtzieher der Al-Qaida-Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998. Die USA führen ihn deshalb auf einer Liste der meistgesuchten Terroristen der Welt.

Beim US-Geheimdienst CIA geht man nach Informationen der „Welt am Sonntag“ davon aus, dass Al-Qaida in den vergangenen Jahren unabhängig von den unter Hausarrest stehenden Kadern ein funktionierendes Netzwerk auf iranischem Territorium aufgebaut hat. Unter Führung des Kuwaiters Muhsin al-Fadhli und des Saudi-Arabers Adel Radi Saker al-Wahhabi al-Harbi entstand eine Struktur aus Schleusern und Kurieren, die nach nach Erkenntnissen des amerikanischen Geheimdienstes angeblich sowohl Terrorgruppen in Afghanistan und Pakistan als auch im Irak mit Kämpfern und Geld versorgen und unterstützen – mit Wissen und Duldung des iranischen Regimes.

„Es gibt keine Beweise dafür, dass al-Qaida und die iranische Regierung jemals bei einem Terroranschlag kooperiert haben“, sagte Terrorismus-Experte Peter Bergen. Dies bedeute jedoch nicht, dass das Al-Qaida Personal in Iran nicht eigenständig Anschläge geplant habe. „Laut saudischen Geheimdienstlern haben die Al-Qaida-Führer in Iran eine Reihe von Terroranschlägen in Saudi-Arabien genehmigt, bei denen zahlreiche Saudis und westliche Ausländer im Jahr 2003 getötet wurden“, so Bergen.

In europäischen Geheimdienstkreisen heißt es, das Al-Qaida-Netzwerk habe inzwischen mit dem iranischen Regime ein inoffizielles Abkommen geschlossen. Die Terroristen sollen davon absehen, im Irak, in Pakistan und anderenorts gezielt Schiiten zu ermorden, so die Forderung der iranischen Führung. Im Gegenzug soll es dem Terrornetzwerk erlaubt sein, auf einem niedrigen Level auf iranischem Staatsgebiet zu agieren.

So konnte noch bis vor kurzem der Syrer Izzadin Abdel Asis Khalil alias „Yassin al-Suri“, Al-Qaidas Statthalter im Iran, frei umherreisen. Der Islamist gilt als eine Art „Kassenwart“ des Terrornetzwerkes. Er soll Spendengelder in den arabischen Golfstaaten eingetrieben und an Al-Qaida-Strukturen in Pakistan vermittelt haben. Zudem soll Al-Suri Kontakte zu Irans wichtigstem Geheimdienst VEVAK gehalten haben.

„Die Iraner wissen sehr genau um die Aktivitäten der Al-Qaida in ihrem Land“, sagt ein europäischer Geheimdienstler. „Und sie wissen, wie sehr die USA davon genervt sind.“

Das Herz der Hydra

by Florian Flade

Überall lesen wir es dieser Tage: al-Qaida ist schon lange keine feste Organisation mehr, ein loses Geflecht einzelner Ableger, kaum verknüpfter Terrorzellen, ideologisierter Einzeltäter. Das von Bin Laden zurückgelassene Terrornetzwerk könne nicht mehr geografisch festgelegt werden. Im Jemen, in Somalia, Nordafrika, ja sogar in Nigeria und Thailand seien heute al-Qaida Metastasen zu finden. All das stimmt. Doch das Herz der Terror-Hydra existiert, es lebt und schlägt in den Bergen Nord-Waziristans. Es ist Ballungszentrum der Bin Laden Jünger, Hort der Terrorplanung und Kaderschmiede. Ein Blick in die Zentral einer Organisation, die längst ein Großkonzern des Terror geworden ist.

Das Terrornetzwerk al-Qaida bestätigte gestern erstmals den Tod seines Gründer und „Emirs“ Osama Bin Laden. Mit der Tötung des saudi-arabischen Top-Terroristen durch US-Elitesoldaten in der Nacht des 02.Mai verliert al-Qaida seine wohl charismatischste Führungsperson – das terroristische Netzwerk jedoch ist längst nicht am Ende. Zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11.September 2001 hat eine neue Generation islamistischer Terroristen die Führung a-Qaidas übernommen. Die Lehrlinge Bin Ladens arbeiten von Pakistan aus fieberhaft an Anschlägen in den USA und Europa.

Geheimdienste und Terrorismus-Experten sehen al-Qaida im Jahr 2011 stark geschwächt jedoch nicht besiegt. Der ehemalige CIA-Analyst Bruce Riedel warnt, den Tod Bin Ladens mit dem Tod al-Qaidas gleichzusetzen. „Osama Bin Ladens Tod ist ein schwerer Schlag für al-Qaida – aber nicht ihr Ende“, so Riedel, „Wir sollten damit rechnen, dass die Bedrohung durch mehr Al-Qaida Anschläge real bleibt.“

Große Anschlagsszenarien, wie das von 9-11, umzusetzen, dürfte al-Qaida allerdings derzeit kaum gelingen, meinen Experten. „Ihre Fähigkeit großangelegte Anschlage auszuüben ist erodiert“, erklärt der Terrorismus-Experte und Autor Peter Bergen. CNN-Korrespondent Nic Robertson verwies zudem auf den Effekt der Tötung Bin Laden. Die werde „enorme psychologische Auswirkungen auf die Mitglieder der Organisation haben“, so Robertson.

Trotz des zunehmend lose agierenden Terrornetzwerkes, hat sich in den pakistanischen Stammesgebieten seit dem Fall Afghanistans als Terrorbasis eine neue Al-Qaida-Infrastruktur etabliert, die auch nach Osama Bin Ladens Tod weiterhin schlagkräftig bleibt und bereits in der Vergangenheit den Verlust von Führungspersonal kompensieren konnte. „Al-Qaida Zentral“ nennen Terrorismus-Experten diesen Kern des von Bin Laden gegründeten Franchise-Netz, das inzwischen weltweit – in Nordafrika, dem Irak, Jemen, Somalia – durch eigenständig agierende Ableger vertreten ist.

Al-Qaidas Kernland aber bleibt das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet. In den entlegenen Bergdörfern der pakistanischen Provinz Nord-Waziristan wartet eine junge Generation von Al-Qaida-Führern darauf, das Ruder der teils losen, teils durchstrukturierten Organisation in die Hand zu nehmen. Hier, zwischen den Ortschaften Mir Ali, Datta Khel und Miranshah, wird nun die „Masjlis Al-Shura“, das Führungsgremium der Al-Qaida, tagen und Nachfolger Bin Ladens, einen neuen „Emir“, ernennen. Aussichtsreichster Kandidat ist der ägyptische Arzt Dr.Ayman al-Zawahiri, langjähriger Weggefährte Osama Bin Ladens und operatives „Gehirn“ der Organisation. Fachleute halten Zawahiri jedoch für wenig charismatisch und kaum geeignet um Bin Ladens Stellung als spiritueller Führer einer globalen Dschihad-Bewegung zu ersetzen.

Sollte Zawahiri (59) neue Emir der al-Qaida werden, übernimmt er ein Terrornetzwerk, das durch die US-Drohnenangriffe in den vergangenen Jahren zahlreiche Kommandeure, Chef-Planer und Ausbilder verloren hat. Al-Qaida ist seit dem 11.September geschrumpft, besteht heute im Kern vermutlich aus weniger als 200 Kämpfern. Die Infrastruktur beschränkt sich heute auf wenige Ausbildungslager in Waziristan, die zunehmend Mühe haben einheimische und ausländische Islamisten aufzunehmen und effektiv in Bombenbau und an Waffen zu trainieren.

Al-Qaidas Führungsebenen scheinen dem Druck der Geheimdienste weiterhin zu trotzen. Fast alle Anschlagsplanungen, die in den vergangenen Jahren in Nordamerika und Europa aufgedeckt wurden oder scheiterten – wie etwa der Autobombenanschlag am New Yorker Times Square, der Plan britischer Islamisten über dem Atlantik Passagiermaschinen zu sprengen oder die jüngst aufgeflogene Düsseldorfer Terrorzelle – haben ihren Ursprung in Nord-Waziristan. Von dort aus operieren die Chef-Planer Al-Qaidas und rekrutieren immer häufiger auch westliche Islamisten für Attentate.

Verantwortlich für die Auslands-Operationen der Al-Qaida ist ein Planungsstab, dessen Mitglieder gefährliche Extremisten sind, die den Westen teilweise aus eigener Erfahrung kennen. Adnan Gulshair al-Shukrijumah soll einer von ihnen sein. Der 1975 in Saudi-Arabien geborene Islamist wuchs in den USA auf, wurde Computer-Fachmann und ist nun wohl Al-Qaidas Mann für Anschläge im Westen. Er ist heute einer der meistgesuchten Terroristen der Welt, auf den die USA ein Kopfgeld von 5 Millionen US-Dollar ausgesetzt haben.

Auch den ehemaligen ägyptischen Oberst Saif al-Adl, den in Großbritannien geborenen Rashid Rauf und den Nordafrikaner Sheikh Mohammed Yunis al-Mauritani vermuten Geheimdienste im engsten Al-Qaida Kreis. Letzterer gilt als zunehmend relevante Person für europäische Sicherheitsbehörde. Al-Mauritani traf im Sommer 2009 deutsche Islamisten in Waziristan und ordnete Attentate in Europa, auch in Deutschland, an. Besonderes Interesse hatte der Al-Qaida Planer dabei wohl an Attentaten auf wirtschaftliche Ziele.

Als lokale Kommandeure für den Bereich Pakistan und Afghanistan füllen mittlerweile immer mehr einheimische Extremisten die Reihen der al-Qaida Hierarchie. Der Pakistaner Ilyas Kashmiri, der verantwortlich sein soll für die Attentate von Mumbai 2008, koordiniert wohl die terroristischen Aktivitäten al-Qaidas in der Region. Er soll für die Bin Laden-Nachfolger Kontakte halten zu pakistanischen Terrorgruppen und den Taliban. Im Afghanistan-Battalion der al-Qaida hat offenbar der Libyer Attiyatullah al-Libi das Sagen, ein als „hochintelligent“ beschriebener Islamist, der persönlichen Kontakt zu Bin Laden gehalten haben soll.

Auf ideologischer Führungs-Ebene hat al-Qaida schon seit längerer Zeit einen weiteren Libyer positioniert, der ebenfalls in den pakistanischen Stammesgebieten vermutet wird – Abu Yahya al-Libi. Der von Terrorexperten als „nächster Bin Laden“ bezeichnete Extremist erschien in einer Vielzahl von Propagandavideos als charismatische Prediger-Figur. Seine theologische Ausbildung lässt vermuten, dass Abu Yahya al-Libi dem Sharia-Rat Al-Qaidas, dem religiös-ideologischen Gremium, vorsteht. Darin vertreten sein könnte auch der ehemalige kuwaitische Religions-Lehrer Sheikh Khalid al-Hussainan, der immer häufiger in Al-Qaida-Videos auftritt.

Die Medienabteilung des Terrornetzwerkes, „As-Sahab Media“ („Die Wolken“), wird sich wohl schon bald mit einer neuen Propagandabotschaft zum Tod Osama Bin Ladens zu Wort melden. Ihr Vorsitzender bleibt wohl auch nach der Tötung des Al-Qaida Gründer, der amerikanischer Konvertit Adam Gadahn alias „Azzam al-Amrikki“. Der 1978 in Kalifornien geborene Amerikaner ist al-Qaidas englisches Propaganda-Sprachrohr und wurde mehrfach im Stammesgebiet Waziristan gesehen.

Insgesamt wirkt Al-Qaidas Zentralführung nach der Tötung Bin Ladens zusätzlich geschwächt, keinesfalls aber besiegt. Personell rücken junge, charismatische Dschihadisten in die neuen Führungspositionen. Wie schlagkräftig al-Qaidas Terror-Struktur im Jahr 2011 tatsächlich ist, bleibt jedoch fraglich. Zusätzlich zu den US-Drohnenangriffen könnten auf Bin Ladens Tod Machtkämpfe mit anderen Terrorgruppen der Region folgen. Und auch ob sich al-Qaida ohne die charismatische Führer-Figur behaupten kann oder zwangsläufig Allianzen für das eigene Überleben eingehen muss, ist noch längst nicht entschieden.

Dass die Erben Bin Ladens dem Terror nicht abschwören werden, ließ al-Qaida die Welt gestern in einer Internet-Botschaft zum Tod ihres Anführers unmissverständlich wissen. „Wir werden den Weg des Dschihad fortsetzen, den Sheikh Osama Bin Laden anführte, und werden uns nicht davon abbringen lassen“, hieß es in dem Schreiben. Auf Bin Ladens Tötung werde Rache folgen, schwor das Terrornetzwerk. Zugleich hieß al-Qaida neue Terror-Rekruten willkommen: „Die Universität des Glaubens, des Koran und des Dschihad, die Sheikh Osama gründete, wird ihre Tore nicht schließen.“