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Die Jagd nach Terroristen mit Tarnkappe

von Florian Flade

Der „Islamische Staat“ (IS) hat Terrorzellen nach Europa entsandt – getarnt als Flüchtlinge. Mindestens zwei Attentäter aber konnten aufgehalten werden, bevor sie morden konnten. Die Geschichte einer Jagd quer durch Europa.

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Adel H. und Mohamed Ghani U. – IS-Terrorverdächtige sitzen in Salzburg in Haft

Diese Geschichte könnte in einer Novembernacht mitten in Paris beginnen. Oder auf einer kleinen griechischen Insel im Oktober. Vielleicht aber auch irgendwann im Spätsommer vergangenen Jahres im Norden von Syrien. Doch eigentlich beginnt sie noch viel früher. An einem Sonntagabend, dem 21. September 2014.

Da tauchte im Internet eine Tonbandnachricht der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) auf. Der Mann, dessen Stimme darin zu hören ist, gilt bis heute als Phantom. Seine echte Identität ist nicht bekannt, es gibt kaum authentische Fotos von ihm. Und das, obwohl er eine wichtige Funktion inne hat. Abu Mohammed al-Adnani ist der offizielle Sprecher des IS. Sozusagen die Stimme des Terror-Kalifats.

Adnanis Botschaft an jenem Tag war eine Warnung. Mehr noch: Eine Kriegserklärung an die Europäer. „Wir werden euch in euren Heimatländern angreifen!“, prophezeite der IS-Sprecher. Die in Europa lebenden Muslime rief er auf, Anschläge zu begehen. Speziell gegen „die boshaften und dreckigen Franzosen“.

Der IS hat Europa im Visier – das war die unmissverständliche Botschaft. Aus Sicht der europäische Geheimdienste aber gab es damals noch keine Hinweise darauf, dass demnächst mit IS-Terror zu rechnen sein könnte. Die Organisation verfolge weiter eine „regionale Agenda“, hieß es. Es gehe vor allem um „Terroritorialgewinne“ vor Ort. Um eine Expansion des Kalifats in der Region.

Ein gefährlicher Trugschluss. In Wahrheit arbeiteten die Dschihadisten längst daran, den Terror nach Europa zu bringen. Eine internationale Koalition, angeführt von den USA, hatte im Herbst 2014 damit begonnen, den IS im Irak und Syrien zu bombardieren. Aus Sicht der Terroristen ein Angriff von außen – einer, auf den sie mit Vergeltung reagieren mussten.

Der IS soll dafür eigens eine Abteilung für „Externe Operationen“ gegründet haben, an der Spitze soll Abu Mohammed al-Adnani stehen. Die Einheit ging, so beschrieben es europäische IS-Dschihadisten nach ihrer Rückkehr in Verhören, aus dem internen IS-Geheimdienst „Amniyat“ hervor. Gezielt sollen Islamisten aus dem Westen für diese Elitetruppe rekrutiert worden sein. Extremisten, die sich in Europa auskennen, dort aufwuchsen, bei ihrer Rückkehr womöglich sogar Freunde und Helfer aktivieren können.

Der Mann, dem die Aufgabe übertragen worden sein soll, Anschläge in Europa zu planen, war ein Belgier. In Syrien nannte er sich „Abu Omar al-Belgiki“. Geboren wurde er am 08. April 1987 als Abdelhamid Abaaoud im Brüsseler Vorort Molenbeek. Der ehemalige Kleinkriminelle entwickelte sich zu einem äußerst kreativen und damit gefährlichem Kader in der Terrorgruppe. Jemand, der energisch und mit großer Geduld nach passenden Rekruten Ausschau hielt, sie teilweise sogar selbst schulte und anschließend nach Europa entsandte, um dort im Namen des IS zu morden.

Abaaoud soll Mehdi Nemmouche, den französische Syrien-Rückkehrer, der im Mai 2014 im Jüdischen Museum von Brüssel vier Menschen erschoss, gekannt haben. Außerdem steuerte er jene Terrorzelle, die im Januar 2015 im belgischen Verviers Anschläge vorbereitete und durch einen Polizeieinsatz wohl noch kurz vor Ausführung gestoppt werden konnte. Ebenso soll Abdelhamid Abaaoud den Franzosen Sid Ahmed Ghlam instruiert haben, in Paris eine Kirche an einem Sonntag, während eines Gottesdienstes, anzugreifen. Nur weil sich Ghlam auf dem Weg dorthin versehentlich mit einem Sturmgewehr ins Bein schoss, gab es kein Blutbad.

Abdelhamid Abaaoud nahm den Auftrag des IS offensichtlich sehr ernst. Er versuchte es immer wieder mit dem Terror in Europa. Die hiesigen Sicherheitsbehörden wussten das, es gab mehrfach Besprechungen zwischen den Nachrichtendiensten, zuletzt am Tag der Anschläge von Paris. Dabei ging es auch um die Frage, wie gefährlich der Belgier für Europa werden könnte. Und was dort in den Terrorcamps von Syrien noch so alles geplant wird.

Womit die Geheimdienste nicht rechneten, war, dass ein historischer Zufall Abaaoud in die Karten spielen würde. Im vergangenen Jahr spitzte sich eine der aktuell größten politischen Herausforderungen für den Kontinent maßgeblich zu: Die Flucht von hunderttausenden Menschen aus den Bürgerkriegen in die Europäische Union. Sie kamen aus Syrien, Irak, Afghanistan, aus Eritrea, Somalia, Nigeria, Pakistan und zahlreichen anderen Krisenherden der Welt. Geflüchtet vor Krieg, Terror, Hunger, Armut und Leid, mit der Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit, nahmen sie lebensgefährliche Überquerung des Mittelmeers in Kauf, reisten zu Fuß über Wochen die sogenannte Balkan-Route gen Norden.

Die Terrorstrategen des IS sahen ihre Chance gekommen. Ihr perfider Plan: Attentäter als Flüchtlinge getarnt nach Europa zu schicken. Die Grenzsicherung der EU war im Herbst vergangenen Jahres mit dem Zustrom der Flüchtlinge völlig überfordert. Es fehlte an Registrierungen, und denen die kamen, fehlte es oft an Ausweisdokumenten. Niemand wusste mehr, wer da genau einreiste. Ideale Umstände, um Terroristen über Grenzen hinweg, durch mehrere Staaten hindurch zu schleusen. Selbst jene Dschihadisten, die vielleicht bei den sonst üblichen Grenzkontrollen aufgefallen wären, gingen nun im Chaos und der Masse unter.

Es sei „unwahrscheinlich, dass Terroristen die waghalsige Bootsflucht über das Mittelmeer nutzen, um nach Europa zu gelangen“, sagte der scheidende BND-Präsident Gerhard Schindler damals. Bis heute heißt es, es gab keinerlei Belege für ein solches Vorgehen des IS. Ausgeschlossen, so betonen Geheimdienstler im Gespräch vehement, habe man diese Möglichkeit jedoch ausdrücklich nie.

Wie falsch die Hypothese der Terrorfahnder war, wurde jedoch erst an einem Freitag, dem 13. November 2015 klar. Gleich mehrere Terrorkommandos schossen und bombten sich in jener Nacht durch Paris. Sie ermordeten 130 Menschen und setzten damit das Versprechen des IS-Sprechers Abu Mohammed al-Adnani auf blutige Weise in die Tat um. Es war vollbracht: Der IS hatte in Europa zugeschlagen.

Noch während die Menschen in Frankreich und anderenorts in Schock und Trauer verharrten, begann für die Ermittler in Paris die eigentliche Arbeit. Wer waren die Mörder? Wie war es die Terroristen gelungen derartige multiple Anschläge durchzuführen? Und das nur zehn Monate nach dem verheerenden Attentat zweier Islamisten auf die Redaktion des Satire-Magazins Charlie Hebdo.

Einer der Selbstmordattentäter vom 13. November hatte sich während des Freundschaftsspiels Frankreich vs. Deutschland vor dem Fußballstadion Stade de France, am Eingangstor D, in die Luft gesprengt. Er hatte wohl noch versucht, in das Stadion zu gelangen, war aber von Sicherheitspersonal daran gehindert worden.

Die Polizei fand schließlich den zerfetzen Leichnam des Terroristen. Daneben stießen die Ermittler auf einen ersten, aber entscheidenden Hinweis, wie der IS das Massaker wohl vorbereitet hatte. Neben dem abgerissenen rechten Fuß des Selbstmordbombers lag ein syrischer Reisepass. Nahezu unversehrt wirkte es so, als hätte ihn der Terrorist noch absichtlich von sich geworfen, bevor er seinen Sprengsatz gezündet hatte.

„Ahmad Almohammad“, stand auf dem Pass, geboren am 10. September 1990 in Idlib, Syrien. Es war die erste heiße Spur auf der Jagd nach den Paris-Attentätern. Umgehend starteten die französischen Behörden eine Abfrage in den Datenbanken. Die Informationen zu „Ahmad Almohammad“ wurden den europäischen Sicherheitsbehörden mitgeteilt. Schon nach wenigen Stunden gab es eine positive Rückmeldung. Aus Griechenland.

Ein Mann mit genau jenem syrischen Pass war nur knapp sechs Wochen zuvor auf der Insel Leros von griechischen Grenzbeamten als Flüchtling registriert worden. Es gab ein Foto des angeblichen Syrers. Und Fingerabdrücke. Sie stimmten mit dem Attentäter vom Stade de France überein. Aber damit nicht genug. Auch ein zweiter Terrorist, der sich vor dem Fußballstadion in die Luft gesprengt hatte, gab sich bei seiner Einreise in Griechenland als syrischer Flüchtling aus. Sein Name: „Mohammad Almahmod“, geboren am 01. Januar 1987.

Blitzschnell verbreitete sich am Folgetag nach den Paris-Anschlägen die Meldung: Pässe gefunden, auch syrische Flüchtlinge gehörten wohl zu den Attentätern. In Wahrheit war dies aber nur die Tarnung, mit der die Männer nach Europa gekommen waren. Die Angaben auf ihren Pässen waren falsch – die Ausweise an sich aber keine Fälschungen im eigentlichen Sinne. Und genau das elektrisierte die Ermittler.

„Ahmad Almohammad“ und „Mohammad Almahmod“ verfügten über authentische syrische Reisepässe. Sie trugen die Passnummern 0079814047 und 007773937. Für letzteren Pass gab es im Schengener Informationssystem (SIS) eine sogenannte „Sachfahndung“, nach diesem Pass wurde also bereits vor den Anschlägen von Paris gesucht.

Die Terrororganisation IS hatte bei ihrem Feldzug zahlreiche Städte und Ortschaften in Syrien unter ihre Kontrolle gebracht, darunter Raqqa und Deir ez-Zour. Den Dschihadisten fielen dabei nicht nur Militärkasernen, Waffenlager oder Gefängnisse in die Hände. Sondern auch Verwaltungsgebäude, und somit auch jene Stellen, in denen Ausweisdokumente ausgestellt wurden. Kurzum: Der IS hatte vermutlich tausende von Blanko-Pässen sowie Anlagen zur Pass-Herstellung erbeutet. Die Terroristen waren damit in der Lage, authentische syrische Reisepässe anzufertigen – auf jede erdenkliche Identität und mit beliebigen Angaben.

Der Umstand, dass der IS in den Besitz von syrischen Pässen gelangt war, war den europäischen Sicherheitsbehörden bekannt. Es war eines ihrer Horrorszenarien. Wie aber könnte verhindert werden, dass der IS diese „echten falschen“ Ausweise benutzt, um Kämpfer nach Europa zu schleusen?

Entscheidende Hilfe kam von einer eher unerwarteten Seite. Das syrische Regime übermittelte den Europäern schon im Sommer 2014 mehrere Listen mit Passnummern jener 3800 Blanko-Dokumente, die mutmaßlich vom IS gestohlen worden waren. In Raqqa waren wohl 1452 Pässe mit den Nummern 007773549 bis 007775000 abhanden gekommen. In Deir ez-Zour sogar 2348 Pässe mit den Nummern 006875653 bis 006876000, 006910001 bis 006911000 und 006951001 bis 006952000.

Die griechischen Behörden schrieben die Dokumente am 24. Juni 2014 im SIS-System zur Fahndung aus. Und auch die deutsche Bundespolizei pflegte die Passnummern in ihre Datenbanken ein. In einem internen Warnschreiben hieß es zudem, beim Antreffen einer Person mit einem dieser Pässe, sei große Vorsicht geboten – „Eigensicherung beachten!“ – außerdem sei unverzüglich die jeweilige Staatsschutzabteilung zu informieren.

Zwei der Paris-Terroristen waren also mit Pässen aus Syrien eingereist, die der IS vermutlich selbst produziert hatte. Und die eigentlich im Schengenraum zur Fahndung ausgeschrieben waren. Wieso aber kamen die späteren Selbstmordattentäter ungehindert nach Europa? Und wenn sie auf diese Weise hinein gelangten, gab es dann noch weitere Terroristen, die mit der Tarnung als Flüchtling gekommen waren?

Umgehend wurden die Ermittlungen auf jenes Boot ausgeweitet, mit denen die beiden Dschihadisten von der Türkei nach Griechenland gekommen waren. Im Herbst vergangenen Jahres, zur Hochzeit der Flüchtlingskrise, kamen zeitweise tausende Menschen täglich auf den griechischen Inseln an. Eine ihrer Anlaufstellen war Leros, knapp 100 Kilometer von der türkischen Küste entfernt.

In den frühen Morgenstunden des 03. Oktober 2015 kamen mehrere Boote mit insgesamt 198 Menschen nach Leros. Die meisten Passagiere gaben an, aus dem syrischen Bürgerkrieg geflohen zu sein. Ihre Daten wurden notiert, Fingerabdrücke genommen, zusätzlich wurden Fotos gemacht. Auf Leros sollen die griechischen Beamten zwar Zugang zum EURODAC-System, nicht aber zum SIS gehabt haben, heißt es. Das wäre eine Erklärung, weshalb die eigentlich zur Fahndung ausgeschriebenen Pässe aus Raqqa zunächst nicht auffielen.

So konnten „Ahmad Almohammad“ und „Mohammad Almahmod“ nach ihrer Registrierung ungehindert weiterreisen, beantragten an verschiedenen Stellen auf der Balkan-Route Asyl und landeten letztendlich in Frankreich.

Griechische Behörden übermittelten den europäischen Partnern die gesamte Liste der am 03. Oktober 2015 auf Leros registrierten Flüchtlinge. Es handelt sich dabei um die Registrierungsbögen von 142 Menschen, all jener, die älter als 16 Jahre waren.

In Berlin-Treptow befindet sich eine Liegenschaft des Bundeskriminalamtes (BKA). Hier residiert die Gruppe Staatsschutz 4, zuständig für Islamistischen Terrorismus. Gemeinsam mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das auf demselben Gelände untergebracht ist, sah man sich in den Tagen nach den Paris-Attentaten die Flüchtlinge von Leros sehr genau an. Die These: Es kamen vermutlich noch weitere Terroristen an jenem Oktobermorgen nach Griechenland.

„Wir gingen davon aus, dass sich diese Personen als Asylbewerber getarnt vielleicht schon in Deutschland aufhalten“, berichtet ein Ermittler. Immerhin sei die Mehrzahl der Flüchtlinge im vergangenen Jahr in die Bundesrepublik gereist. So vermutlich auch weitere getarnten IS-Terroristen.

Also wurde versucht sämtliche Flüchtlinge aus Leros aufgrund ihrer Daten zu lokalisieren. Einige waren inzwischen in Schweden aufgetaucht, viele in Deutschland, andere in Slowenien. Doch gab es IS-Schläfer darunter?

Die BKA-Beamten legten die Listen der gestohlenen syrischen Blanko-Pässe neben die Registrierungsbögen aus Leros. Es gab zwei Treffer. Zwei weitere Männer hatten bei ihrer Ankunft in Griechenland Pässe vorlegt, die aus den IS-Beständen stammten. Auch sie gaben sich als Syrer aus – „Khaled Alomar“, geboren am 01. Januar 1980 in Aleppo. Und „Faysal Alaifan“, geboren am 05. Januar 1981.

Wo waren die beiden jetzt?

Beim BKA wurde eine Besondere Aufbauorganisation, die BAO „Echo“, ins Leben gerufen. Sie sollte ermitteln, wo sich die Terrorverdächtigen aufhalten. Einen ersten Hinweis lieferten die griechischen Behörden. Sie konnten rekonstruieren, dass die Männer von Frontex-Beamten bei ihrer Ankunft in Leros befragt worden waren. Dabei kamen erste Zweifel auf, ob es sich tatsächlich um Syrer handelte. „Faysal Alaifan“ sprach kaum Arabisch. „Khaled Alomar“ wiederum konnte keinerlei Fragen zu seinem angeblichen Heimatort Aleppo beantworten.

Es folgte eine Festnahme der Männer – jedoch nicht wegen Terrorverdacht. Sondern aufgrund eines Passdelikts. Sie kamen drei Wochen auf der Insel Kos in Haft und erhielten anschließend die Auflage, Griechenland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Am 27. Oktober 2015 kamen beide frei und konnten am Folgetag ungehindert weiterreisen.

Als die Terrorkommandos unter Anleitung von Abdelhamid Abaaoud in Paris einen der schwersten Terroranschläge in der jüngeren europäischen Geschichte verübten, befanden sich die beiden Männer vom Flüchtlingsboot noch auf Reisen. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien kamen sie Anfang Dezember über den Grenzübergang Spielfeld nach Österreich. Sie gaben sich erneut als Flüchtlinge aus – diesmal allerdings aus Nordafrika stammend, mit den Namen „Nasser Said Moqaiss“ und „Mohamad al-Fatori“.

In diesen Tagen gab es bereits die ersten Fahndungen nach ihnen. Sowohl Behörden in Deutschland, als auch in Frankreich und Österreich gaben die Informationen zu den beiden Gesuchten im Schengener Informationssystem (SIS) ein. Da die echten Identitäten aber nicht klar waren, befanden sich dort lediglich die Alias-Namen, die sie bislang verwendet hatten sowie die Fotos, die von ihnen auf Leros und später in der Haft gemacht worden waren.

Interessant außerdem: Die mutmaßlichen IS-Terroristen waren nicht zur Festnahme ausgeschrieben, sondern lediglich zur „verdeckten Kontrolle“ (Österreich), „gezielten Kontrolle“ (Frankreich) oder zur „Polizeilichen Beobachtung“ (Deutschland). Der Grund dafür waren die mangelnden Belege für einen Terrorbezug. „Wir haben mit den Fahndungseinträgen ein Netz gelegt. Und wir wollten wissen, wo sie sich aufhalten“, sagt ein eingeweihter Ermittler. „Aber wir hatten nicht genug, um sie zu verhaften.“

Es soll das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gewesen sein, das letztendlich den entscheidenden Hinweis auf die Männer an die österreichischen Behörden übermittelte. So konnten sie in einer Flüchtlingsunterkunft in Salzburg ausfindig gemacht werden. Am Abend des 10. Dezember 2015 stürmte die Eliteeinheit „Cobra“ das Asylbewerberheim in der Münchner Straße und nahm beide Personen unter Terrorverdacht fest.

Mehr als 100 Stunden wurden die beiden Männer seitdem befragt, teilweise in Anwesenheit von französischen Geheimdienst-Mitarbeitern, die eigens eingeflogen kamen. Im Verhör gaben sie nicht nur ihre echten Identitäten preis – Adel H., 29, aus Algerien, und Mohamed Ghani U., 34, aus Pakistan – sondern bestätigten auch, dass sie tatsächlich für die Terroranschläge von Paris rekrutiert worden waren.

In Syrien habe der IS sie ausgewählt für eine „Mission“ nach Frankreich zu reisen. Im September habe es ein entsprechendes Auswahlgespräch mit einem IS-Kommandeur namens „Abu Ahmad“ in Raqqa gegeben. Dann seien Passfotos für die gefälschten Ausweise gemacht worden. Dann seien sie gemeinsam mit den gebürtigen Irakern, die sich später am Stade de France in die Luft gejagt hatten, zu Fuß in die Türkei gebracht worden. Ein Schleuser fuhr sie angeblich anschließend mit dem Auto bis nach Izmir, wo das Quartett eine Nacht in einem Hotel verbrachte.

Für rund 100 Euro hätten sie anschließend Schwimmwesten und wasserdichte Beutel für die Reisepässe gekauft. Der Schleuser, der die Dschihadisten nach Griechenland bringen sollte, verlangte angeblich knapp 1000 Euro für seine Dienste. In einem Gestrüpp nahe der Küste hätten beide auf die Überfahrt gewartet, berichteten H. und U. in den Vernehmungen. Es sei geplant gewesen, dass zwei Boote mit Flüchtlingen in den frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang nach Leros übersetzen sollten. Eine Gruppe sei jedoch von der türkischen Polizei festgenommen worden. Um 4 Uhr morgens begann die gefährliche Bootsfahrt für die vier Terroristen und dauerte eineinhalb Stunden. Dann griff die griechische Marine das Boot mit den rund 50 Flüchtlingen auf und brachte sie nach Leros.

Die österreichischen Ermittler konfiszierten bei der Festnahme auch die Mobiltelefone von H. und U.. So konnte rekonstruiert werden, dass die beiden wohl mehrfach über WhatsApp-Chat in Kontakt standen mit einem Verbindungsmann in Syrien. Einmal forderten sie Geld für die Weiterreise, und erhielten prompt 2000 Euro per Western Union. Einmal wollten sie wissen, was denn nun ihr Bestimmungsort sein sollte.

Zudem stießen die Ermittler auf einem der Handys auf eine türkische Telefonnummer, die auch auf einem zerknüllten Zettel befand, den einer der Selbstmordattentäter vom Stade de France in seiner Hosentasche bei sich getragen hatte. Die Nummer wird einem IS-Terroristen zugerechnet, der womöglich für die Logistik der Reisen zuständig war. Sie war bereits in einer Wohnung in Athen gefunden worden, aus der heraus Abdelhamid Abaaoud die Terroristen von Verviers instruiert haben soll.

Adel H., das soll eine erste Handyauswertung ergeben haben, verfügte über zahlreiche Kontakte zu anderen Flüchtlingen – einige davon kamen wie er in den Wochen zwischen September und Oktober nach Europa. Andere waren wohl schon vorher eingereist. Diesen Spuren gehen die Ermittler derzeit noch nach. Sie wollen wissen, ob es noch weitere Dschihadisten gibt, die vielleicht noch Attentate planen.

Kurz vor seiner Festnahme soll H. zwei Männer kontaktiert haben, die ebenfalls als Asylbewerber in Österreich lebten. Einem soll der Algerier sogar versucht haben, seine SIM-Karte zu übergeben. Nach mehrtägiger Observation griff die österreichischen Polizei auch hier zu. Nur rund eine Woche nachdem Adel H. und Mohamed Ghani U. verhaftet wurden, nahmen Polizisten ebenfalls in Salzburg einen 25-jährigen Marokkaner und einen 40-jährigen Algerier fest. Auch ihnen wird IS-Mitgliedschaft vorgeworfen. Sie befinden sich ebenfalls  in Untersuchungshaft.

Noch rätseln die Ermittler, ob die Terrorverdächtigen auch nach den Paris-Attentaten noch weiter auf tödlicher Mission unterwegs waren. Einerseits wirkten H. und U. in Salzburg recht orientierungslos. Als ob ihnen die genauen Instruktionen fehlten. Andererseits gibt es da noch die Interneteinträge auf dem sichergestellten Handy. Vor ihrer Festnahme interessierten sich die beiden wohl für Bahntickets – von Wien nach Paris.

IS veröffentlicht Handy-App für Kinder

von Florian Flade

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Kinderleicht soll es sein. Auf dem Smartphone durch das arabische Alphabet klicken und dabei spielerisch die Buchstaben lernen. Die Handyapp ist in bunten Farben und Comic-Stil gehalten. Einzig die Beispiele wirken etwas verstörend. „د“ für „دبابة“ – das arabische Wort für „Panzer“. Oder „س “ für „سيف“ , was „Schwert“ bedeutet.

Die Terrorgruppe IS hat in der vergangenen Woche eine App für Android-Handys veröffentlicht, mit der Kinder die arabischen Buchstaben lernen sollen. Das Programm mit dem Namen „Huruf“ wird derzeit von den Dschihadisten über die unterschiedlichen Kanäle in sozialen Medien beworben. Damit sollen Kinder sowohl die Aussprache als auch das Schreiben der Buchstaben erlernen. Zusätzlich gibt es noch ein Acapella-Lied, ein sogenanntes Nasheed.

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Die App darf als weiterer Versuch des IS bei der Indoktrinierung von Kindern gewertet werden. Aus Propagandavideos der Organisation ist ersichtlich, dass in den beherrschten Gebieten in Syrien und Irak bereits routinemäßig religiöse und ideologische Schulungen für Kinder und Jugendliche stattfinden. „Löwenwelpen“ nennen die Terroristen ihren Nachwuchs. Mit „Huruf“ zielt der IS nun auch Kinder von islamistischen Eltern im Ausland, sprich auch im Westen, ab.

Das Arabisch-Lernprogramm ist dabei nur die letzte digitale Innovation der Terroristen. Schon seit einigen Monaten bietet der IS auch eine App seiner ominöse Nachrichtenagentur „Amaq“ an. Auch sie ist für Android-Smartphones konzipiert und bietet regelmäßige Updates mit Videos, Bekennerschreiben und Audiobotschaften.

 

Dschihad-Rückkehrer Teil 7 – Die Herforder Clique

von Florian Flade

Junge Männer aus Herford reisen in den Dschihad. Mindestens einer kommt ums Leben. Der Rückkehrer Sebastian B. hat seine Zeit in Syrien überlebt und steht derzeit in Düsseldorf vor Gericht.

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Sebastian B. (Screenshot: SPIEGEL TV Magazin)

Ismail I. zeigte sich kooperativ. Vier Tage lang gab der gebürtige Libanese den Staatsschützern bereitwillig Auskunft. In den stundenlangen Verhören sprach er über seine Zeit in Syrien. Von der Ausbildung zum Dschihadisten, den Führungsstrukturen der Terroristen, von Kämpfern aus dem Kaukasus, vom Balkan und aus Deutschland.

Der Stuttgarter Islamist war im August 2013 nach Syrien gereist, hatte sich dort der Terrorgruppe „Jaish al-Muhajirin wa al-Ansar“ (JAMWA) angeschlossen und besuchte ein Terrorausbildungslager nahe Aleppo. Nur zwei Monate später kehrte er nach Deutschland zurück, um Ausrüstungsgegenstände und Medikamente für die Dschihadisten vor Ort zu kaufen. Als er sich erneut auf den Weg ins Kriegsgebiet machte, griffen die Fahnder zu.

In seinen Gesprächen mit der Polizei sprach Ismail I. über seine Erlebnisse vor Ort. Zu einer etwa 100-köpfigen Kampfeinheit namens „Muhajirun halab“ habe er gehört, einer Untergruppe der JAMWA, die sich inzwischen der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) angeschlossen hat. Die Dschihadisten seien in  der Ortschaft Hraytan, nördlich von Aleppo, stationiert gewesen. Dort habe es auch eine Gruppe von Kämpfern aus Deutschland gegeben. Sie stand unter dem Kommando des Mönchengladbacher Konvertiten Konrad „Konny“ S., der sich vor Ort „Abdulwahid al-Almani“ nennt.

Aber auch andere Islamisten aus Deutschland hatte Ismail I. kennengelernt. Da war beispielsweise Marko K. alias „Issa al-Almani“, ein 23-jährige Konvertit aus dem rheinische Bergheim. Der ehemalige Messdiener starb im November 2013 bei Kämpfen. Oder der Deutsch-Ghanaer Dela Yannis T. aus Biefeld. Auch er kam in Syrien ums Leben.

Und da waren noch zwei weitere Dschihadisten aus Deutschland, die Ismail I. den Beamten des Staatsschutzes beschrieb. Einen „Mustafa aus Mönchengladbach“, der auch in der Propaganda-Arbeit tätig gewesen sein, und einen „Umar“, der aus Ostdeutschland stamme, früher mit Drogen gedealt und eine auffällige Tätowierung besessen habe.

Die Beschreibung passte auf zwei Islamisten aus Nordrhein-Westfalen: Mustafa C. alias „Abu Qatada“ aus Mönchengladbach und Sebastian B. alias „Abu Umar al-Almani“ aus Herford. Letzterer stammte ursprünglich aus Ostdeutschland, wurde im Oktober 1987 in Frankfurt Oder geboren. Mehrfach wurde er wegen Drogendelikten verurteilt. Und er besitzt am Oberarm eine Tribal-Tätowierung.

Sebastian B. reiste nach Erkenntnissen der Ermittler im August 2013 über die Türkei nach Syrien. In einem Lager der JAMWA-Untergruppe „Muhajirun halab“ soll er eine paramilitärische Ausbildung erhalten haben. Anschließend leistete B. nach Darstellung der Staatsanwaltschaft Wachdienste und andere logistische Aufgaben für die Terroristen. Auch in ein Gefecht soll er verwickelt gewesen sein und sich sogar in eine Liste für willige Selbstmordattentäter eingetragen haben.

Mitte November 2013 kehrte Sebastian B. nach Deutschland zurück. Und verhielt sich alles andere als unauffällig. So beteiligte sich der Konvertit  an gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Salafisten und kurdischen Jesiden in Herford.

Am 22. Januar stürmte schließlich das SEK die Wohnung von Sebastian B. im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses, wo er mit seiner Frau und seinem Sohn wohnte, nahm den 27-jährigen Islamisten fest. Zeitgleich wurde Mustafa C. in Mönchengladbach verhaftet. Er soll im März 2013 nach Syrien gereist und zwischenzeitlich wieder nach Deutschland zurückgekehrt sein. Im September 2013 zog es ihn erneut in den Bürgerkrieg.

Inzwischen hat vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf der Prozess gegen die beiden Syrien-Rückkehrer Sebastian B. und Mustafa C. begonnen. Das Verfahren gibt ungewöhnliche Einblick in die Radikalisierung einer Herforder Salafisten-Clique.

Nach dem Umzug der Familie von Brandenburg nach Nordrhein-Westfalen wuchs Sebastian B. in Herford auf, ging dort zur Schule. Eine schöne Jugend aber soll er nicht gehabt haben. Von Pflegefamilien und Drogenmissbrauch ist die Rede. Irgendwann im Jahr 2010 soll bei ihm das Interesse für den Islam entstanden sein. B. kam in dieser Zeit in Kontakt mit Muslimen aus seiner Nachbarschaft, er besuchte eine Kampfschule in der viele Kaukasier trainierten und verkehrte wohl auch in der salafistischen Assalam-Moschee an der Ahmser Straße, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Eine wichtige Person in der islamistischen Szene in Herford ist nach Angaben von Sicherheitsbehörden ein drahtiger Mann mit langem grau-schwarzem Bart. Der Tschetschene Said O., der in den 90er Jahren im Kaukasus auf Seiten der islamistischen Rebellen gegen die russische Armee gekämpft haben soll. Seit 2001 lebt er als anerkannter Asylbewerber in Deutschland. Der Staatsschutz führt den Tschetschenen als islamistischen „Gefährder“. Said O. soll gemeinsam mit seinem Sohn eine wichtige Rolle als Netzwerker und Rekrutierer für die Dschihad-Szene übernehmen.

Im Juni 2013 kam Said O. in Rumänien in eine Fahrzeugkontrolle. Er wolle mit seiner Familie Urlaub in der Türkei besuchen, gab er an. Seine Familie aber erzählte, O. habe in der Türkei nach Arbeit suchen wollen. Bis heute rätseln die Ermittler, ob Said O. nach Syrien gereist war.

Fest steht: Mehrere junge Männer aus seinem Umfeld traten die Reise in den Dschihad an. Darunter der inzwischen getötete Dela T. Ein weiterer Islamist aus der Salafisten-Clique, Murad D., soll aktuell noch in Syrien kämpfen.

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Lesen Sie hier:

Dschihad-Rückkehrer Teil 1 – “Du Blödmann!”

Dschihad-Rückkehrer Teil 2 – Auf Shoppingtour

Dschihad-Rückkehrer Teil 3 – “Etwas erledigen”

Dschihad-Rückkehrer Teil 4 – Kämpfer im Sturm

Dschihad-Rückkehrer Teil 5 – Liebe im „Heiligen Krieg“

Dschihad-Rückkehrer Teil 6 – Der Jäger